Märchen, Der Falke unter dem Hut ab 9 Jahre
Poknagi und der unsichtbare König
Ein Märchen aus Korea
Vor vielen hundert Jahren herrschte im Lande Puyo ein junger König, den hatte noch niemand zu Gesicht bekommen außer einem alten Minister, der die Regierungsgeschäfte schon zu Lebzeiten des verstorbenen Vaters ausübte. Monat um Monat wurde ein Jüngling von achtzehn Jahren unter den Familien des Landes ausgelost und dem König zugeführt, doch keiner dieser Unglücklichen kam in sein Vaterhaus zurück. Sie alle blieben auf rätselhafte Weise verschwunden, und niemand erfuhr, was mit ihnen geschehen war. Wenn ihre Eltern wehklagend an den Königshof kamen und Rechenschaft forderten, wies man sie mit den Worten ab: „Es geschieht alles nach dem Willen der Götter und ist unabänderlich.“
Kein Wunder, daß alle Familien, ob sie arm oder reich waren, um ihre Söhne bangten und in ständiger Angst vor dem unsichtbaren König lebten.
Eines Tages erhielt Poknagi, der einzige Sohn einer armen Witwe, die Nachricht, daß das Los ihn getroffen habe. Die arme Frau klagte laut und flehte die königlichen Boten an, sie möchten ihr doch den Sohn lassen, der zugleich ihr Ernährer sei. Doch ihre Bitten waren umsonst.
Poknagi bat die Gesandten, sich bis zum nächsten Morgen zu gedulden, er habe noch mancherlei im Hause zu richten und wolle von der Mutter Abschied nehmen. Das wurde ihm zugebilligt.
Als sie wieder allein waren, sagte der Junge: „Verzweifle nicht, liebe Mutter, du hast keinen Feigling erzogen und auch keinen Dummkopf. Ich werde um mein Leben kämpfen. Ich verspreche dir, die Augen offenzuhalten und mich umzusehen, damit ich hinter das entsetzliche Geheimnis komme. Wenn ich keinen Ausweg sehe, so werde ich den König mit diesem Dolch umbringen. Ich will dann das letzte Opfer sein, und alle jungen Leute werden wieder sorglos schlafen können. Du aber warte im Hause meines Freundes auf mich. Man wird dich nicht verhungern lassen, wenn man erfährt, daß nach mir keiner mehr den schrecklichen Weg ins Ungewisse gehen muß.“
Die Mutter konnte sich über die Rede ihres Sohnes nicht beruhigen. Von der Absicht Poknagis aber, den König zu töten, war sie tief erschrocken und bat ihn, davon abzulassen.
„Die Person des Königs ist heilig, das weißt du, mein Sohn. Die großen Götter werden sich rächen und mich strafen, denn ein Mord bleibt es doch.“
Poknagi schwieg und dachte voller Grimm: Warum rächen die Götter nicht jene Verbrechen, die an den unschuldigen Jünglingen verübt wurden? Sind sie ihnen weniger wert als ein einziger König? Laut aber sagte er: „Ich verspreche dir, liebe Mutter, über all mein Handeln die Klugheit zu stellen. Ich werde erforschen, was für einen König uns die Götter gegeben haben und ob er es wert ist, daß man ihn so verehrt, wie du es tust.“
Am nächsten Morgen umarmte er seine Mutter und folgte wortlos seinen Begleitern.
Im Palast des Königs wurden ihm seidene Gewänder gereicht, doch die Diener, die ihm beim Ankleiden halfen, sprachen kein Wort, sondern sahen ihn nur traurig an. Dann geleitete ihn der Minister in das Kabinett des Königs, das hinter zwölf Türen und zwölf leeren Räumen lag. Dort zog sich der alte Mann zurück.
Poknagi stand jetzt allein vor dem Herrscher. Er verneigte sich tief, und als er seinen Blick wieder hob, sah er, daß dem König zwei lange Eselsohren gewachsen waren. Mit keiner Miene verriet der Junge, was er dachte: Die Götter haben ihn gezeichnet. Nun rächt sich der Verunstaltete an uns, den schön und natürlich Gewachsenen. Poknagi fühlte einen heißen Zorn in sich hochsteigen, denn jetzt glaubte er das Schicksal der so rätselhaft Verschwundenen zu kennen.
Der König betrachtete Poknagi lange, endlich begann er zu sprechen: „Woher du auch kommst, Jüngling, ob aus einem reichen oder armen Hause, ich heiße dich willkommen. Dir wird die große Gnade zuteil, einen Monat lang der Gefährte und Gesellschafter deines göttlichen Königs zu sein. Du wirst in dem angrenzenden Gemach wohnen, die Mahlzeiten mit mir einnehmen, mir die Zeit vertreiben und meine Wünsche an den Minister weiterleiten, denn wisse, ich muß, dem Willen der Götter gehorchend, einsam leben, um Weisheit zu gewinnen. Natürlich hast du auch Pflichten. Du mußt mich täglich waschen und kleiden und hast mir Bart und Haare zu scheren. Damit du aber niemandem verraten kannst, daß meine Ohren so lang wie Eselsohren sind, mußt du nach dreißig Tagen sterben, wie alle Jünglinge vor dir. So hat es
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