Du sollst nicht töten: Mein Traum vom Frieden (German Edition)
lebend verlassen hat. Egal, ob wir wenden, weiterfahren oder stehen bleiben.
Ich will Julia, die hinter mir steht, zurufen: »Das ist eine Todesfalle.« Doch im selben Moment zischt – meine Gedanken überholend – eine Boden-Boden-Rakete an uns vorbei. Mit flachem Knall trifft sie unser Auto. »Deckung«, brülle ich Julia zu. »Geh in Deckung!«
Ich denke in diesem Augenblick noch, wir könnten uns hinter eines der ausgebrannten Autowracks werfen. Doch schon beginnen um uns herum krachend Artilleriegeschosse einzuschlagen. Dazwischen bellt kehlig ein Maschinengewehr und bestreicht die Straße.
Julia und Yussuf rennen verzweifelt Richtung Wüste. Mit erhobenen Händen. Sie wollen den Schützen zeigen, dass sie unbewaffnet sind. Aber das haben die bestimmt längst gesehen. Sie jagen Julia und Yussuf wie Hasen. Prasselnd, zischend schlagen ihre Geschosse neben, hinter, vor ihnen ein. Auch dicht bei mir.
Wo ist Abdul Latif? Sein Auto ist ein riesiger rotgelber Feuerball, eingehüllt in eine sich aufwölbende tiefschwarze Rauchwolke. Ich will auf die Flammenkugel zugehen. Doch Yussuf schreit fast hysterisch von Weitem: »Go, go, Abdul Latif dead!« Ich rufe ihm ungläubig nach: »Wo ist Abdul Latif?« Keuchend brüllt Yussuf zurück: »Abdul Latif killed, come, come!« Dann entschwinden Yussuf und Julia Deckung suchend in die Wüste.
Es ist schwer, die Gefühle dieser Sekunden zu beschreiben. Die totale Verblüffung über den Überfall auf diesem harmlosen Stück Wüstenstraße. Das Wissen, in einer Falle zu stecken. Die dumpfe Ahnung, dass dies die letzten Augenblicke unseres Lebens sein könnten. Das erdrückende Gefühl, Verantwortung für unsere kleine Gruppe zu haben.
Ich kann und will nicht losrennen. Ich will nicht fort von der Straße, auf der ich vor wenigen Minuten noch mit Abdul Latif über seine Zipfelmütze gewitzelt habe. Fast magisch zieht es mich zu dem Feuerball hin, der sein Auto war. Julia erzählt später, ich hätte mich trotz des Eisenhagels kaum bewegt. Mehrfach hätte ich mich ungläubig umgedreht. Irgendwann habe sie nur noch nach vorne geblickt und nicht mehr zurückgeschaut. Auch aus Angst, mich das nächste Mal nicht mehr zu sehen.
Mir ist klar, dass ich von der Straße runter muss. Unentwegt schlagen hier surrend, rauschend Artilleriegeschosse und Maschinengewehrgarben ein. Jeden Augenblick kann der Raketenschütze eine weitere punktgenaue Boden-Boden-Rakete abfeuern. Ich muss weg. Doch wohin? Die Einschläge zerschellen nicht nur auf der Straße, sie wühlen auch die Wüste auf.
Wie in Trance folge ich Julia und Yussuf, die hinter einer Sanddüne verschwunden sind. Doch das wütende Artilleriefeuer, das Zischen, Pfeifen, Dröhnen gehen weiter. Es wirbelt den Sand auf, nimmt mir die Sicht.
Abdul Latif ist tot, und ich vielleicht bald auch. Ich spüre, dass alles entschieden ist, und gehe noch langsamer. Man kann seinem Schicksal nicht entkommen. Stets hatte ich geahnt, dass dieser Augenblick eines Tages kommen würde. Ich hatte mir vorgenommen, nicht davonzulaufen, sondern das letzte Stück des Weges mit Anstand zu Ende zu gehen. Außerdem bin ich gar nicht mehr in der Lage zu rennen. Meine Beine sind schwer wie Blei, während um mich herum der Tanz des Teufels weitergeht.
Julia und Yussuf liegen längst hinter einem zwei Meter hohen Sandhügel. Yussuf fragt, wo ich bleibe. Julia antwortet tonlos: »Der kommt nicht mehr.« Sie wagt nicht, über die Düne zu schauen. Aus Angst, entdeckt zu werden. Aber auch weil sie die Gewissheit fürchtet, dass ich nicht mehr kommen würde. Nur gelegentlich hält sie die Kamera hoch und drückt blind ab.
Doch auf einmal hat sie mich im Bild. Sie sieht auf ihrer Kamera, wie ich langsam auf den Dünenkamm zugehe. Kurz danach lasse ich mich neben ihr und Yussuf in den Sand fallen. Ich presse mein Gesicht in den Sand, um nicht zu zeigen, was ich fühle. Was um Himmels willen ist da in den letzten 15 Minuten geschehen? Alles ist völlig irreal. »Tod durch Gaddafi – in der libyschen Wüste ermordet«, das konnte doch nur ein Albtraum, ein schlechter Film sein. Irgendwann musste dieser Irrsinn zu Ende sein.
Aber er geht weiter. Die Schützen Gaddafis nehmen nun das Gelände rund um unsere Düne großflächig unter Beschuss. Die mörderischen Geräusche werden noch dumpfer, grollender. Mörser, Granaten, Raketen schlagen donnernd 50, 100 Meter von uns entfernt ein. Tief wühlen sie die Erde auf, schleudern Sandfontänen in die Luft. Dunkle
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