Du stirbst nicht: Roman (German Edition)
Hülle heraus. Warum will sie ihn aber überhaupt aus seiner Hülle rausbekommen, sie kann doch das ganze Ding gleich wegschleudern, weg, weg, in den kleinen Wassergraben, der ganz in der Nähe fließt.
Jemand ruft Mama, die Stimme kommt ihr bekannt vor, die Stimme macht, dass sie etwas wie Liebe sofort spüren kann, und dabei wird sie nicht heiß und rot. Es muss noch eine andere Art Liebe geben. Warum weiß sie das einfach nicht mehr? Warum versteckt sich das, bis jemand Mama ruft und sie herausreißt aus dem Listenschreiben, das nichts als ein Plan, ein Vorhaben ist und schon beim ersten Eintrag sieben Siegel zeigt?
Ein kleines, Mama rufendes Mädchen kommt an der Hand eines Mannes den Betonweg entlanggerannt. Die beiden bleiben stehen, das Mädchen sieht ihr erwartungsvoll in die Augen. Neugierig schaut sie zurück. Langsam dämmert ihr, dass sie es kennt. Es heißt Lottchen.
Lottchen sitzt auf den Rollstuhlknien, als sie gemeinsam zurückfahren auf Station.
Wo wohnst du denn?
Lottchen möchte wissen, wo sie wohnt. So lange dauert ihr also die Abwesenheit, dass sie glaubt, die Mama sei umgezogen. Ausgezogen. Sie wollte ja auch ausziehen. Kommt die Tatsache, dass sie sich hier aufhält, der Absicht nun nahe oder entfernt sie uns von ihr? Wieder so etwas, das sich nicht weiter greifen lässt, als die Frage hergibt. Die (im Stillen) ausgesprochene Ungewissheit wehrt jede Art von Antworten ab, indem sie für Konfusion sorgt in Helenes Kopf. Trennungsgequatsche wäre deplatziert in dieser Situation. Sie versucht, gewaltsam für Ruhe zu sorgen. Schließt die Augen, was gut geht, da Matthes sie schiebt.
Au , schreit Lottchen belustigt, du kneifst mich ja!
Und Reinhardsbrunn? Wie hat es dir gefallen bei den Großeltern?
Trumpfkarte. Lottchen erzählt, was der Opa alles angestellt hat mit ihr. Im Wald Himbeeren und Blaubeeren gesucht. Vögel, Schmetterlinge und Pflanzen beim Namen genannt. Eine richtige Schmetterlingsexpertin sei sie geworden, sagt Matthes.
Und siehst du, Mama, das da ist bloß ein Kohlweißling, davon gibt’s viele, aber ein Tagpfauenauge ist schon viel schöner und seltener, und einen Schachbrettfalter oder einen Admiral musst du richtig suchen!
Ihre eigene Kindheit war von Schmetterlingen, Pflanzen und Vögeln bestimmt gewesen, die der Vater hingebungsvoll mit ihr beobachtet hatte. Sie ist gerührt, dass er das auch mit ihrer Tochter tut, während ihre Mutter, wie früher, zu Hause kocht und bäckt. Danach braucht sie nicht zu fragen. Ihr Verhalten eine Endlosschleife. Auf einmal hat es etwas sehr Beruhigendes, dass sich die Geschichten wiederholen lassen. Die Empörung darüber, dass ihre Mutter zu Hause bleibt, um die Aufgaben des Weibchens zu übernehmen, während der Vater ihr die Welt zeigt, ist nicht mehr auffindbar. Wenn sie nach Hause kamen, war die Wäsche gewaschen und aufgehängt, die Kartoffeln dampften aus der Schüssel, es gab gebratene Blutwurst und Sauerkraut, der Geruch zieht ihr sofort in die Nase. Nie hätte sie gedacht, unter ihrem feministischen Überzieher so etwas wie Nachsicht auszumachen für die Rollenverteilung ihrer Eltern. Nachsicht? Nein, Dankbarkeit ist es womöglich, die sich da breitmacht. Sie sieht ihren Vater plötzlich, wie er die Mutter küsst nach der Wiederkehr, mit Stolz im Blick, warum hat sie das früher nicht mehr gesehen, als sie es wirklich sah, wenn ihr Vater mit den kleinen Schwestern nach Hause kam von den immer gleichen Touren und sie schon groß genug war, sich aufzulehnen gegen die vermeintliche Bestimmung, die doch auch auf sie wartete … Ihre Mutter war immer berufstätig gewesen, hatte tagaus, tagein als Lehrerin Horden von Schulkindern Lesen und Schreiben beigebracht – hätte ihr das nicht reichen müssen? Hätte sie im Handeln ihrer Eltern nicht Aufgabenteilung sehen können? Ging es bei ihnen nicht viel ruhiger, viel weniger chaotisch zu als in ihrem eigenen Haushalt mit den fünf Kindern, und war das nicht eine Folge dessen, dass klar war, wer was tut? Jeder das, was er am besten kann?
Es ist seltsam, wie festgefügte Auffassungen übereinander herfallen und sich in völlig anderen Zusammenhängen zeigen als bislang. Wie sie einander auslöschen mit nicht viel mehr als einem einzigen Satz eines Kindes.
Sie hat Matthes endlos nachgeschaut vom Fenster aus. Es ist lange her, dass sie das zum letzten Mal tat. Sie studierten noch, er Mathematik, sie Psychologie, und er war von einer Eisbar am Leipziger Marktplatz zur Straßenbahn gerannt. Noch
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