Du und Ich
kleiner Schwachkopf, versprichst du mir, dass wir uns wiedersehen?«
»Ich verspreche es dir.«
Als ich wach wurde, war meine Schwester gegangen.
Sie hatte mir eine Nachricht dagelassen.
Cividale del Friuli
12. Januar 2010
Ich trinke einen Schluck Kaffee und lese die Nachricht noch einmal.
Lieber Lorenzo,
mir ist eingefallen, dass es noch eine Sache gibt, die ich hasse: Abschiede. Deshalb verschwinde ich lieber, bevor du wach wirst.
Danke, dass du mir geholfen hast. Ich bin froh, einen im Keller versteckten Bruder entdeckt zu haben.
Denk daran, das Versprechen zu halten.
Deine
Oli
PS: Lass dich nicht vom Cercopithecus erwischen.
Heute, zehn Jahre später, sehe ich sie zum ersten Mal seit jener Nacht wieder.
Ich falte den Zettel wieder zusammen und stecke ihn ins Portemonnaie. Ich nehme den Koffer und verlasse das Hotel. Es weht ein kalter Wind, doch eine matte Sonne hat sich durch die Wolken geschoben und wärmt meine Stirn. Ich schlage den Jackenkragen hoch und überquere die Straße. Der Trolley macht Lärm auf dem Pflaster.
Das ist der Weg. Ich trete durch ein steinernes Tor und gelange in einen quadratischen Hof voller Autos.
Ein Pförtner winkt mich zu sich. Ich öffne die Glastür.
»Bitte?«
»Ich bin Lorenzo Cuni.«
Er gibt mir ein Zeichen, ihm den Korridor hinunter zu folgen. Er bleibt vor einer Tür stehen. »Hier ist es.«
»Mein Koffer?«
»Den können Sie hierlassen.«
Der Raum ist groß, weiß gekachelt. Es ist kalt.
Meine Schwester liegt auf einem Tisch. Ein Laken deckt sie bis zum Hals zu. Ich trete näher. Es fällt mir schwer, einen Fuß vor den anderen zu setzen.
»Ist sie es? Erkennen Sie sie wieder?«
»Ja … Sie ist es.« Ich gehe noch ein wenig näher. »Wie haben Sie mich gefunden?«
»Im Portemonnaie Ihrer Schwester war ein Zettel mit Ihrer Nummer.«
»Kann ich allein mit ihr sein?«
»Fünf Minuten.« Er geht hinaus und schließt die Tür.
Ich hebe das Laken hoch und nehme ihre blassgelbe Hand. Sie ist so mager wie im Keller. Auf ihrem Gesicht liegt ein ruhiger Ausdruck, und sie ist immer noch wunderschön. Sie sieht aus, als ob sie schläft.
Ich beuge mich über sie und lege meine Nase an ihren Hals.
Olivia Cuni wurde am 25. September 1976 in Mailand geboren und ist in der Bar des Bahnhofs von Cividale del Friuli am 9. Januar 2010 an einer Überdosis gestorben. Sie war dreiunddreißig Jahre alt.
Weitere Kostenlose Bücher