Duenenmond
zurück zu seinem Haus, doch auch da war er nicht.
Je länger sie suchte, desto ärgerlicher wurde sie. Sie konnte schließlich nicht ewig auf ihn warten. Er hätte ihr sagen müssen, wie sehr sie ihn verletzt hatte. Sie hatte eine Erklärung verdient, aber er vertraute ihr anscheinend nicht genug.
Jo sah auf die Uhr. Sie war am Abend mit ihrer Mutter zumEssen verabredet. Wenn sie sich nicht langsam auf den Weg machte, käme sie zu spät. Eine halbe Stunde blieb sie noch in ihrem Auto sitzen, dann fuhr sie kurzentschlossen nach Prerow. Sie ging in die Galerie der grauhaarigen Frau mit dem schrägen Pony. Sofort bemerkte sie, dass das Bild ihres Vaters, der orangefarbene Dünenmond, nicht mehr an seinem Platz hing.
»Guten Tag, kann ich Ihnen helfen?«
»Das Bild, das hier hing. Ich habe mich neulich schon dafür interessiert. Ist es verkauft?«
»Ich erinnere mich an Sie. Nein, es ist nicht verkauft. Noch nicht, nur reserviert.«
»Oh …« Im Grunde standen auf dem Dachboden ihrer Mutter ohnehin noch genug Werke von Otto Niemann, dem geheimnisvollen Maler, dessen Namen die Galeristin nicht verraten durfte. Trotzdem wollte Jo genau das Gemälde, das sie hier entdeckt hatte.
»Wenn Sie mir eine Telefonnummer da lassen, dann melde ich mich bei Ihnen, falls der Kauf doch nicht zustande kommt.«
»Gute Idee!« Sie zückte eine Visitenkarte. »Mein Name ist Josefine Niemann.« Sie sah der Galeristin fest in die Augen.
Von Prerow fuhr sie noch einmal nach Ahrenshoop bis zu Jans Haus. Noch immer war er nicht zurückgekehrt. Er musste wirklich große Angst haben, sie noch einmal zu sehen. Dann war es eben nicht zu ändern. Ein wenig theatralisch dachte Jo, dass es ihm gewiss leid täte, wenn sie nun auf der Rückfahrt einen schweren Unfall hätte und sie sich nicht voneinanderverabschiedet hatten. Ein schrecklich nüchterner Teil in ihr wusste, dass er es nicht einmal erfahren würde. Jo startete den Motor.
Solange sie sich noch auf der Halbinsel befand, waren ihre Augen mehr auf die Passanten gerichtet als auf die Straße. Sie hoffte so sehr, ihn zwischen den vielen Menschen, die am Wochenende unterwegs waren, zu entdecken. Die hübschen Rohrdachhäuser, die sie bei der Anreise so begeistert hatten, nahm sie nicht einmal wahr.
Sie ließ den Darß, ließ Fischland hinter sich und lenkte ihren Wagen irgendwann auf die Autobahn. Wie grau die Welt hier aussah! Kein Wunder, dass kein Maler seine Staffelei an einer Autobahn oder Schnellstraße aufbaute. Jo fiel auf, wie hässlich der Asphalt war, der in der Sonne flimmerte, wie unangenehm die Blechlawine, die sich in beide Richtungen Stoßstange an Stoßstange vorwärts wälzte. Ihr war heiß. Sie wollte nicht die künstliche Kälte der Klimaanlage, sie wollte die frische Luft der Ostsee. Jo ließ das Fenster heruntergleiten. Herein kam der Gestank von Abgasen und der Lärm der Motoren. Sie drückte wieder auf den Knopf, bis das Fenster sich lautlos schloss.
Sönke war ein wirklich netter Kerl und ein guter Freund. Jo fielen auch die anderen ein, die sie in den letzten beiden Wochen kennenlernen durfte. Jette und Anton, Silke und Sarah. Sarahs Worte kamen ihr in den Sinn, dass auf dem Darß die liebenswertesten Menschen überhaupt lebten. Das glaubte Jo gern. Gab es einen besseren Ort, um zu leben, um womöglich mal eine eigene Familie zu gründen und Kinder großzuziehen?
Die Silhouette Hamburgs tauchte in der flirrenden Luft auf wie eine Fata Morgana: Schornsteine, aus denen ungesunder Qualm aufstieg. Noch nie waren Jo die Häuser so bedrohlich erschienen. Wie heimtückische Pressen standen sie am Straßenrand, die sich schließen und sie zerquetschen konnten, wenn Jo zwischen ihnen hindurch fuhr. Sie hörte das Meer und den Wind nicht. Sie hörte überhaupt nichts, was ihr vertraut war. Da war nur Hupen, das Rumpeln einer vorüberfahrenden S-Bahn, Musik aus einem Cabriolet und das hohle Dröhnen eines Flugzeugs, das in Fuhlsbüttel landen würde.
Wie ferngesteuert bog Jo in die Einfahrt zu ihrer Tiefgarage ein. Ein beklemmendes Gefühl breitete sich in ihr aus. Es war, als gehöre sie nicht mehr hierher, und das fühlte sich furchtbar an. Sie stand auf dem Parkplatz, der zu ihrer Wohnung gehörte. Das Rolltor, das sich hinter ihr in Bewegung gesetzt hatte, fiel jetzt scheppernd ins Schloss. Die Stille in der dunklen Garage war gespenstisch.
»Ich liebe dich«, hatte er gesagt. Sie war ihm die Antwort darauf noch schuldig. Jo wusste mit einem Mal ganz genau, was
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