Duenne Haut - Kriminalroman
Revolver, die Waffe wechselt im Flug den Besitzer, und nun ist X der Gelackmeierte, schaut seinerseits in die kleine runde Öffnung. Keine Zeit für Schockzustände. Wenn die Kugel einem das Hirn beim Hinterkopf hinaustreibt, ist wenig Gefühl im Spiel. Auch nicht beim Kinopublikum. Das Gesetz der Spionage ist ein Naturgesetz, und jeder Beteiligte kennt und akzeptiert es: Wer schneller abdrückt, hat recht. Überleben als einziges Kriterium. Aber das fällt dem Guten im Film natürlich wesentlich leichter als in der profanen Wirklichkeit. Zumal der Agent im Film nicht ans Bett gefesselt ist, wortwörtlich.
„Setz dich auf“, sagt sie.
„Witzig“, sagt er, „wie denn?“
Die Strümpfe schnüren ihm das Blut ab. Er merkt, dass es um seinen Kreislauf nicht zum Besten bestellt ist. Ein leichter Schwindel hat ihn erfasst, und er kämpft dagegen an. Nein, das wäre nicht angebracht, so knapp vor dem Abgang noch zu kollabieren.
Die Andeutung eines Lächelns auf ihrem Gesicht vermag ihn nicht zu beruhigen. Es drückt ziemlich unmissverständlich aus, dass er sich wegen seines zu niedrigen Blutdrucks keine Sorgen mehr machen muss, wie auch wegen sonst nichts mehr. Sie haben viel geredet miteinander in den letzten Tagen. Da lernt man, die Kommentare im Gesicht des anderen zu lesen.
„Na schön. Dann tu halt, was du tun musst.“
Wieder dieses Lächeln.
„Nein, mein Freund. So schnell sind wir nicht fertig miteinander. Ein wenig wirst du dich schon noch gedulden müssen.“
Sein Blick fällt auf die Hausschuhe neben dem Bett. Die beiden Filzpantoffel stehen wieder einmal verkehrt nebeneinander, aber das spielt jetzt auch keine Rolle mehr. Allenfalls wird sich später ein ermittelnder Kollege darüber den Kopf zerbrechen. Ob die ungewöhnliche Stellung der Pantoffeln womöglich etwas über den Tathergang aussage, oder ob es sich gar um eine letzte verschlüsselte Botschaft des Opfers handle.
Schwachsinn!, denkt er. Wie schwer es mir fällt, meine Situation als dramatisch anzunehmen, obwohl sie es zweifellos ist. Ist das vielleicht dieselbe Art von Sehnsucht wie bei meinem Bruder, ein dunkler Drang nach drüben? Erwarte ich mir so etwas wie die Erlösung von der Banalität alles Irdischen? Aber wird es denn danach wirklich weniger banal? Die Worte des Vaters auf der Intensivstation kommen ihm in den Sinn, an ihn gerichtet in einem der seltenen intimen Augenblicke, die er mit seinem Erzeuger teilte:
„I säg dr eppas, des hon i sus no niamand gset: I glob nix vo dem Käs, Tone, gär nix vo dem, was do no ko söll. A koan Gott und o a koan Tüfel.“
Das hatte der Alte ihm noch mitgeben wollen, dass er an nichts von all dem glaube, was nach dem Tod kommen solle, weder an Gott noch an den Teufel, und seine tief liegenden Augen hatten darum gebeten, diese Worte für sich zu behalten. Ein Wunsch, den Hagen natürlich erfüllte. Allerdings, wenn er ehrlich ist, arg beschäftigt hat er sich mit Vaters Einsichten zwischenzeitlich auch nicht. Dass sie ihm gerade jetzt wieder einfallen müssen …
„Also schön. Dann reden wir halt. Wenn es dir hilft.“
Es ist nicht das erste Mal, dass er diesen Spruch verwendet. Vor allem gegenüber Lisa hat er damit geglänzt. Zumeist, wenn sie ihn darum bat, endlich ihr komisches Verhältnis zu klären. Er ist nie ein großer Redner gewesen. Außer bei Verhören, aber das ist ein anderer Kanal. Ein öffentlich-rechtlicher gewissermaßen, kein peinlich privater. Mehr noch als das Reden ist das Reden-Lassen ein Teil seiner Arbeit. Es gibt nur wenige Verbrecher, die im Verlauf von tagelangen Verhören nicht zu dem Punkt gelangen, wo sie sich mitteilen wollen. Müssen! Und wenn es nur ein Polizist ist, der ihnen zuhört. Hauptsache, irgendeiner beschäftigt sich mit ihrem vertrackten Innenleben.
„Wenn es dir hilft!“, äfft sie ihn nach. „Hat schon viel gelernt von den Ärzten hier, unser Amateurpsychiater! Aber wer sagt dir, dass ich mit dir reden will?“
„Was willst du dann?“
Sie sieht durch ihn hindurch, als ob er nicht im Raum wäre. Er hat noch keinen Menschen kennengelernt, der das besser beherrscht hätte als sie. Es ist nicht jener Blick ins Leere, der einem mitunter beim Nachdenken hilft; nein, es ist die kalte Verneinung des Gegenübers. Ein Leugnen seiner Existenz. Oder zumindest seiner Existenzberechtigung.
„Abwarten“, sagt sie und nimmt auf seiner Matratze Platz. Als wäre sie eine Besucherin am Krankenbett.
Von draußen hört er den Ruf eines Uhus.
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