Dunkelmond
gelbem Granit gezogen. Er kauert sich hin und zieht sein weites rotgelbes Gewand über sie. Sanara will sich widersetzen, doch dann hört sie entsetzte Schreie, rasche Schritte schwerer Soldatenstiefel, Waffengeklirr, das feuchte Schmatzen von Klingen, die in Fleisch eindringen, schwere Gegenstände, die auf den granitenen Boden fallen. Und immer wieder Aufschreie, erstickt und verzweifelt. Laute des Todes.
Sie erstarrt vor Grauen, als ein plötzlicher Ruck durch den Körper des Shisans geht, als wäre er gestoßen worden. Er stöhnt auf – anscheinend vor Schmerz –, erschauert und wird still. Die Anspannung in seinen Muskeln lässt auf einmal nach, sein Körper lastet jetzt schwer auf ihr.
Irgendwann verebbt der entsetzliche Lärm, doch noch wagt sie nicht, sich zu rühren.
Später wird sie nicht wissen, wie lange sie so in der Stille unter dem Leichnam ihres Beschützers gekauert hat. Vielleicht nur Sekunden, aber es kommt ihr wie eine Ewigkeit vor.
Dann, irgendwann, reißt jemand den Körper von ihr fort.
Sanara schreit auf, doch die Hand, die sie packt, von dem Toten fortzieht und in den Arm nimmt, ist warm und stark. Sie wird an einen muskulösen Körper gepresst, den Körper eines Magiers, der die Erze der Erde im Feuer zu schmieden versteht.
Es ist Sinan. Weinend schmiegt sie sich an ihn. Er streicht ihr über das Haar und murmelt beruhigende Worte.
Schließlich wagt sie es, aufzusehen und dreht sich um. Ihr Bruder will sie hindern, doch sie reißt sich los.
Ihr bietet sich ein Bild des Schreckens.
Im ganzen Tempelraum verstreut liegen Tote. Blutspritzer und -lachen beflecken den gelblichen Granit der Halle, besudeln die heiligen Muster des Dunklen Mondes auf dem Boden und an den Wänden und die roten, gelb bestickten Roben der Shisans.
Sanara lässt ihren Bruder stehen, beißt die Zähne zusammen und tritt zwischen die Toten und all das Blut. Sie muss ihren Vaterfinden! Doch noch während sie sucht, spürt sie, wie ihr Bruder nach ihrer Hand greift. Er zieht sie fort. Als sie sich weigern will, wird sein Griff fester.
»Nein, kleine Schwester! Er ist nicht da! Er hat uns verraten! Ich habe gesehen, wie er mit dem Prinzen fortging!«
Sie starrt ihren Bruder fassungslos an. Er hat bernsteinfarbene Augen, so wie sie und ihr Vater. Doch der Ausdruck darin ist jetzt anders als früher. Nicht mehr fröhlich und übermütig, sondern hart, zornig und verletzt.
»Das kann nicht sein! Er weigerte sich, den Elben zu geben, was sie wollten!«, widerspricht sie.
»Und doch ging er mit ihnen, stößt ihr Bruder hervor. »Er ging mit ihnen und tat nichts, um uns zu retten! Dabei hätte er als Seelenherr die Macht gehabt, sie alle auf der Stelle zu töten!«
Sanara schweigt. Ihr Lehrer sagte – und sie selbst weiß es mittlerweile aus eigener Erfahrung –, dass man nicht einfach so in die Leere jenseits der Welt zu gehen vermag. Man braucht alle Kraft und Konzentration dazu. Ihrem Vater aber wurde vom Prinzen beides genommen. Und doch – ihr Vater versteht es meisterlich, die Seelen auf den Jenseitigen Ebenen zu beherrschen. Hat ihr Bruder vielleicht doch recht? Vielleicht hätte er es bewerkstelligen können.
Doch ihr Vater ist fort und hat sie hier inmitten der Ermordeten zurückgelassen.
»Komm, kleine Schwester. Wir müssen fort«, sagt Sinan jetzt milder. Er legt den Arm um sie und führt sie fort. »Sieh nicht hin. Hier lebt niemand mehr. Es gibt nur noch dich und mich. Ab jetzt werde ich für dich sorgen.«
Der Weg, vorbei an den Ermordeten im Tempelraum und nach draußen, scheint endlos zu dauern, aber sie wendet den Blick kein einziges Mal ab. Sie will das Bild jedes einzelnen Toten in sich aufnehmen, keinen Blutstropfen vergessen. Sie will für immer im Gedächtnis bewahren, dass der elbische Fürst in seinerGrausamkeit wahrhaftig alles zerstört hat, was ihr Leben bis dahin ausmachte.
An dieser Stelle nimmt der Schmerz jedes Mal überhand und tötet die Erinnerungen ab. Die Bilder verlöschen.
Sie ist wieder in ihrer Gegenwart, in der sie auf der Flucht ist.
Jeden Tag ihres Lebens.
Kapitel 1
»Vor undenklichen Zeiten existierte nur das Chaos, in dem Ys, der Geist der Harmonie, und Syth, der Geist der Veränderung, um die Vorherrschaft kämpften. Das Chaos existierte in einem Ei, doch es war zu eng für Ys und Syth. Denn Ys war ein Geist der Harmonie und der Ruhe und immer bestrebt, die Dinge zu glätten, während Syth die Neuschöpfung, die Veränderung und den ständigen Aufruhr
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