Dunkle Verlockung (German Edition)
vorbeikam, die in der Zufluchtsstätte stationiert werden sollten. Im Moment vertrat Jason Raphaels Interessen in der Engelsfestung, unterstützt von Illium und Aodhan, doch die beiden Engel waren noch jung.
Zum tausendsten Mal berührte Jessamy den Brief und fuhr die harten, eckigen Züge von Galens Schrift nach. In seinen knappen Worten, die andere Frauen vielleicht als Desinteresse gedeutet hätten, konnte sie seine Energie, seine rohe Kraft beinahe spüren. Sie lächelte, weil sie wusste, dass ein Krieger weder Zeit noch Lust hatte, sich die Poesie und die schmeichelnde Kunst werbender Worte anzueignen. Schließlich küsste sie den Brief und legte ihn auf das Buch, das sie an diesem Tag mit nach Hause nehmen wollte.
»Tochter.«
Beim Klang dieser vertrauten Stimme drehte sich Jessamy um und ließ Galens Brief zwischen die Buchseiten gleiten – aber ihre Mutter hatte ihn bereits gesehen. »Von deinem Barbaren.« Sie sagte es mit einem Lächeln, aus dem eher Zuneigung als Missbilligung sprach.
Jessamy lachte. »Ja.« Sie erzählte ihrer Mutter nicht, dass Galen längst nicht so barbarisch war, wie er wirkte – nicht nur, weil es ihm einen Vorteil verschaffte, dass andere seinen Intellekt stets unterschätzten, sondern auch, weil er eine solche Rechtfertigung nicht nötig hatte. Sie liebte jede Seite an ihm, die raue ebenso sehr wie die verborgene süße, die ihn dazu veranlasst hatte, ihr zwischen den Seiten seines Briefes ein getrocknetes Gänseblümchen mitzuschicken.
Heute bin ich über die Wiese geflogen und musste daran denken, wie du mit den Blumen gesprochen hast, hatte er geschrieben und sie damit beinahe zu Tränen gerührt. Dieses große Untier.
»Du liebst ihn.« Den Worten ihrer Mutter folgte ein breiteres und doch irgendwie unverbindliches Lächeln. »Ich sehe es in deinen Augen.«
Jessamy konnte dieses Zögern und diese Distanz zwischen ihnen nicht länger ertragen und lief in die ausgebreiteten Arme ihrer Mutter. Ihr warmer, liebevoller Duft war Jessamy so vertraut und brachte die Erinnerung an jene Nächte ihrer Kindheit zurück, die sie stumm und steif auf Rhoswens Schoß zugebracht hatte. In dieser Zeit hatte sie wirklich begriffen, dass ihre Flügel niemals die gleiche Form haben würden wie die ihrer Freunde und dass sie nie in der Lage sein würde, bei ihren Spielen am Himmel mitzumachen.
»Ja«, flüsterte sie und drückte ihre Mutter fest an sich. Rhoswen hatte sie Nacht für Nacht in ihren Armen gewiegt und ihr Kind mit grimmiger, beschützender Liebe in ihrer Stimme zu trösten versucht. Doch der Schmerz war zu groß gewesen, um sich damit abzufinden. »Ich bin glücklich.«
Als Rhoswen sich aus der Umarmung löste, lag ein feuchter Schleier über dem tiefen Braun ihrer Augen. »Nein, das bist du nicht.«
»Mutter … «
»Schhh.« Unter Tränen lachend, drückte Rhoswen ihre Hände. »Du leidest, weil du deinen Krieger so sehr vermisst.«
Jessamy lachte, und auch ihr kamen ein paar Tränen, denn bis zu diesem Moment war ihr nicht bewusst gewesen, wie sehr es ihr fehlte, mit ihrer Mutter über Galen zu sprechen. Es nicht zu tun, war keine bewusste Entscheidung gewesen, eher eine Ausdehnung des schmerzlichen Schweigens, das im Laufe der Jahre zwischen ihnen gewachsen war. »Kommst du mit mir nach Hause?«, fragte sie und griff nach Rhoswens Hand. »Ich möchte gern mit dir reden.«
»Das möchte ich auch gern.« Schlanke, lange Finger strichen über ihre Wange. »Es freut mich so, zu sehen, dass die Traurigkeit aus deinem Herzen gewichen ist.« In diesem Moment erkannte Jessamy, dass die Distanz zwischen ihnen ebenso viel mit ihr selbst zu tun gehabt hatte wie mit ihrer Mutter. Sie hatte ihren Kummer gut getarnt geglaubt, als sie heranwuchs und zu einer respektierten Persönlichkeit in der Zufluchtsstätte wurde, aber welche Mutter, die ihre Tochter liebt, könnte nicht das Salz der verborgenen Tränen ihres Kindes schmecken?
Als sie sich bei Rhoswen unterhakte und sich ihre Flügel in einer warmen Vertrautheit zwischen Mutter und Kind berührten, traf sie eine Entscheidung: Was die Zukunft auch bringen mochte, Rhoswen sollte nie wieder solchen Schmerz bei ihrer Tochter spüren müssen. Galen hatte Jessamy geholfen, ihre Flügel zu finden, aber es war ihre Aufgabe, die sprudelnde Lebensfreude in sich selbst zu nähren. Sie würde darum kämpfen, sich dieses Gefühl zu bewahren.
»Was schreibt er denn, der große Grobian, der dich vor den Augen der gesamten Zufluchtsstätte
Weitere Kostenlose Bücher