Dunkler Wahn
die lange Zeit der quälenden Ungewissheit, was mit dem Jungen geschehen war. Dreiundzwanzig endlos lange Jahre waren verstrichen, ohne dass man je auf eine Spur des Sechsjährigen gestoßen wäre.
Svens Verschwinden hatte für Jan und seine Familie fatale Folgen gehabt, und Jan wäre beinahe daran zerbrochen. Als er schließlich den schwärzesten Punkt seines Lebens erreicht hatte, war er zur Rückkehr nach Fahlenberg gezwungen gewesen und hatte eine Arztstelle in der Waldklinik angenommen. Nur wenig später hatte der Suizid einer jungen Frau dazu geführt, dass Jan einem Skandal auf die Spur gekommen war, der mit Sven und der Klinik in Zusammenhang gestanden hatte.
Während dieser Zeit hatte er die Journalistin Carla Weller kennengelernt, und die Ereignisse hatten die beiden zusammengeschweißt. Sie hatten ihr Leben riskiert, um die Wahrheit über eine Serie rätselhafter Selbstmorde herauszufinden, und sämtliche Medien hatten darüber berichtet.
Jan, der eine Schlüsselrolle in diesem Fall gespielt hatte, war in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses gerückt. In zahllosen Artikeln war sensationsheischend über die Aufdeckung des Skandals berichtet worden, und der Trubel um Jans Person war ihm alles andere als recht gewesen – vor allem, weil nicht alles, was über den Fall geschrieben wurde, der Wahrheit entsprochen hatte. Viele Fakten waren schlagzeilenwirksam aufgebauscht und mit erfundenen
Geschichten über Jan und seine Familie ausgeschmückt worden. Als ob das, was ihnen in Wirklichkeit widerfahren war, nicht schon schlimm genug gewesen wäre.
Selbstverständlich hatte auch Carla darüber geschrieben, und es hatte nicht lange gedauert, ehe ihr ein Verlag ein äußerst lukratives Angebot für ein Buch gemacht hatte. Sie hatte mit Jan über dieses Angebot gesprochen, und Jan war dagegen gewesen. Immerhin ging es um seine Geschichte, und er hatte endlich damit abschließen wollen. Doch Carla hatte darin eine »große Chance« gesehen – nicht nur für sich selbst, wie sie betont hatte. Zwar bedeutete dieses Buch für sie den großen Karriereschub von der Kleinstadtreporterin zur Buchautorin, aber sie sah darin auch die Möglichkeit, den Gerüchten, die ihre Pressekollegen in immer neuen Artikeln über Jans Geschichte in die Welt setzten, ein Ende zu bereiten.
Trotzdem hatte Jan sie zu überzeugen versucht, den Buchvertrag abzulehnen. Aus seiner Sicht war schon viel zu viel über seine Person an die Öffentlichkeit gelangt, und er hatte gehofft, dass der ganze Fall über kurz oder lang in Vergessenheit geraten würde, sobald ein neues großes Thema die Presse beschäftigte.
Doch Carla hatte sich nicht umstimmen lassen. Es sei auch ihre Geschichte, hatte sie ihm entgegengehalten. Schließlich sei sie dabei fast ums Leben gekommen.
So war das Buch zu einem Keil geworden, der immer tiefer in ihre Beziehung drang – erst recht, als es zu einem Bestseller wurde. Nun, ein Jahr nach den Ereignissen und wenige Wochen nach Erscheinen des Buches, trat Carla in Talkshows auf und gab Interviews, und wen immer sie auch trafen, das Erste, worauf sie angesprochen wurden, war Carlas Buch.
Die Folge war, dass Jan und Carla feststellen mussten,
wie sehr sie sich voneinander entfernt hatten – Carla, die ihren Lebenstraum von der großen Story verwirklicht sah, und Jan, der nur das ruhige und normale Leben führen wollte, nach dem er sich so viele Jahre lang vergeblich gesehnt hatte.
Als Carla schließlich das Angebot für eine mehrwöchige Lesereise annahm, sahen sie beide darin eine Möglichkeit, für eine Weile getrennte Wege zu gehen, um über die weitere Zukunft ihrer Beziehung nachzudenken. Falls es noch eine Zukunft für sie gab.
Da er seit Carlas Abreise nichts mehr von ihr gehört hatte, war Jan überzeugt gewesen, dass es zwischen ihnen aus war. Doch der Rosenstrauß ließ neue Hoffnung in ihm aufkeimen. Denn trotz aller Differenzen in den letzten Monaten bedeutete das noch nicht, dass er nichts mehr für sie empfand. Im Gegenteil.
»Ich werde ihr das Buch zum Signieren geben, sobald sie zurück ist«, versprach er und zauberte damit ein breites Lächeln auf Bettinas Gesicht. Gleichzeitig bemerkte er eine Veränderung. Das kleine Mädchen, das in ihr zum Vorschein gekommen war, verschwand, und Bettina war wieder die selbstbewusste junge Frau Anfang zwanzig.
»Danke, Sie sind ein Schatz! Ist es okay, wenn ich heute ein wenig früher gehe? Ich müsste dringend … also, ich hätte da noch was zu
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