Dunkler Zwilling
»Modertal« war durch zwei Pünktchen über dem »o« und ein von oben eingeflicktes »r« in »Mördertal« umgewandelt worden. Super! Das passte! Dieses Arschloch sollte wissen, was er von ihm hielt.
Hoffentlich saß Luna in der nächsten Bahn. Sie musste ihn unbedingt auf andere Gedanken bringen. Wobei das gar nicht mehr so einfach war, seit die alte Hexe ihn völlig aus dem Takt gebracht hatte. Immer wieder sagte er sich, dass er ihrem Gefasel keinen Glauben schenken sollte. Aber ein nagender Zweifel war geblieben.
Neulich hatten sie in der Schule ein Gedicht gelesen:
Der Tod ist groß.
Wir sind die Seinen
lachenden Munds.
Wenn wir uns mitten im Leben meinen,
wagt er zu weinen
mitten in uns.
Er hatte diese Zeilen sofort auswendig wiederholen können. Sie ließen ihn nicht mehr los.
Vor ein paar Wochen hätte er die Alte lachend davongejagt. Vor ein paar Wochen war er ein völlig anderer gewesen.
Maurice’ Blicke wanderten das Silberband der Schienen entlang. Sie waren glatt und blank und verloren sich im Dunkel einer fernen Zukunft. Was für ein magischer Vergleich! Hier stand er als kleiner Punkt auf einer gewaltigen Zeitschiene, deren Endstation er nicht kannte. Zugegeben, es gab ihm einen gewissen Kick, darüber nachzudenken, ob man sein Leben riskieren wollte als Einsatz in einem Spiel, dessen schicksalhafte Regeln man sich selbst ausgedacht hatte: Wenn der Zug vor der Zeit einfährt, springe ich. Wenn er pünktlich oder verspätet ist, bleibe ich stehen. In der Regel gab es immer zwei Möglichkeiten, ein Problem zu lösen. Manchmal war der radikale Schnitt die bessere Alternative. Man war sein Leben los, aber auch alle Probleme auf einen Schlag. Wie sollte man sich entscheiden? Besser man zwang das Schicksal, es für einen zu tun! Es hatte einen grausamen Reiz, dieses kleine russische Alltagsroulette! Zwei Möglichkeiten! So ähnlich, wie man die Blütenblätter einer Blume rupft: Sie liebt mich. Sie liebt mich nicht. Es war wie das Nerven zerfetzende »Entweder-Oder«-Spiel, das seit einigen Wochen sein Leben bestimmte. Knöchlein oder Fingerchen? Was weiß die alte Hexe? Ich springe. Ich springe nicht. Im Dunkel tauchten wie glühende Augen die Lichter des Triebwagens auf. Ein Monster im Veitstanz!, dachte er. Immer größer wurden die Lichtkegel. Ich springe, ich springe nicht …
Mittwoch, der 2. Januar 2013
Frohes neues Jahr, Max! LOL! Gratulation, das hat richtig super angefangen! Voller Griff ins Klo! Gestern war einer der härtesten Tage meines Lebens! Nicht körperlich. Es tut einfach scheiße weh, wenn man plötzlich die Wahrheit erfährt. Es ist, als würde dir jemand mit einem Stilett ins Herz stechen und noch ein bisschen hin und her drehen, damit es richtig durchzieht. Dabei kenne ich noch nicht mal die ganze Wahrheit, nein, die leider immer noch nicht. Damit rücken sie nicht heraus, trauen sich wohl nicht. Oder sie wissen wirklich nichts. Egal …
Eigentlich schreibe ich wegen etwas ganz anderem. Wegen der Briefe und weil ich Angst habe. Es gibt merkwürdige Ungereimtheiten im meinem Leben, die keine Zufälle sein können. Und merkwürdige Drohungen, die ich mir nicht einbilde. Ich hatte mir echt schon überlegt, ob ich damit nicht zur Polizei sollte. Aber ich ahne schon, was die sagen würden: Alles normal. Mobbing und geheime Drohungen gehören zum Schulalltag. Dumme-Jungen-Streiche! Das hört auch wieder auf!
So was in der Art würden auch meine Eltern sagen. Aber die wären im Moment eh die Letzten, an die ich mich wenden könnte. Die sind Meister in dem Triathlon »Aushalten, Anpassen, Abwarten«, wie sie mir gestern wieder mal bestens bewiesen haben.
Ich bin also erst mal allein mit meinen Problemen. Echt allein! Wenn ich über das alles reden will, muss ich es mit mir selbst tun. Deshalb also dieses Tagebuch – auch wenn ich kein geübter Tagebuchschreiber bin und so was eigentlich nur für Mädchen ist. Ich brauche jemandem, dem ich sagen kann, welche Scheißangst ich manchmal habe! Was ist, wenn das alles erst der Anfang ist, wenn sich mein Feind im Dunkeln langsam steigert? Die Mafia macht das doch auch so. Sie schicken dir erst einmal einen toten Fisch, dann nageln sie dir deinen toten Hund an die Haustür und dann geht es dir selbst an den Kragen. Den toten Fisch hatte ich schon. Der lag vor den Weihnachtsferien in meinem Schließfach in der Schule. Wohlgemerkt in dem Schließfach, zu dem nur ich den Schlüssel habe! Ich habe das widerlich stinkende Teil
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