Dunkler Zwilling
aber nur die halbe Wahrheit und typisch für meine Eltern. Halbe Wahrheiten sind ihre Spezialität! Das, was wehtun könnte, wird ausgeblendet. Wahrheit light – sozusagen. Meine Oma ist eigentlich noch ziemlich fit für ihre bald 76 Lenze. Nur Getränkekästen schleppen oder Hecken schneiden ist nicht mehr ihr Ding. Meine Eltern konnten, ehrlich gesagt, die Miete in unserer alten Wohnung in der Innenstadt nicht mehr bezahlen. Mein Vater ist Bauingenieur. Seine Firma ging pleite. Er hat über ein Jahr lang Bewerbungen geschrieben. Meine Mutter ist gelernte Kostümschneiderin. So was braucht heute auch kein Mensch mehr. Sie arbeitet jetzt an der Kasse bei einem Supermarkt in der Stadt. Mein Vater ist immer noch zu Hause und macht dort meine Oma verrückt, weil er ständig was zu zimmern, zu hämmern und zu bohren findet.
Moment! Was schreibe ich da eigentlich alles auf? Und auch noch mit der Hand in dieses große, leere Buch? Hallo? Wie gruftig ist das eigentlich? Okay, mein Laptop ist leider völlig im Eimer. Und es gibt, wie gesagt, kein Geld, um ein neues zu kaufen. Internet hat Oma eh nicht. Und dass ich das hier nicht an einem Computer in der Schule schreiben kann, versteht sich ja wohl von selbst! Aber muss ich jetzt so in aller Ausführlichkeit etwas aus meinem Leben vorheulen? Sollte ich mich nicht besser kürzer fassen und nur die Facts auflisten? Nein, das geht nicht! Wer immer das hier einmal – aus welchem Grund auch immer – zu lesen bekommt, der sollte einfach auch möglichst viel von mir als Person wissen, weil er oder sie mich persönlich eventuell nicht mehr fragen kann. Weil ich dann nämlich tot bin! Tot wie Maurice. Ich bin der festen Überzeugung, dass es kein Selbstmord war, sondern Mord! Und zwar, weil er etwas aufgestöbert hat, dem auch ich auf der Spur bin. Deshalb wollen die mich auch drankriegen. Dummerweise habe ich keine Ahnung, wer »die« sein könnten. Auch deshalb habe ich dieses Buch angefangen, um mir selbst Überblick und Klarheit zu verschaffen. Vielleicht habe ich ja irgendwann beim Durchlesen plötzlich einen Flash.
Vielleicht bist ja sogar du es, Chiara, die das alles liest. Ich hatte ernsthaft überlegt, ob ich nicht dir dieses Tagebuch zur Aufbewahrung geben sollte. Aber es gibt zwei Gründe, warum ich das nicht tue. Erstens könntest du es dann heimlich lesen und von mir denken, ich sei voll der Psycho und zweitens habe ich echt Angst, dich damit in Gefahr zu bringen, und das möchte ich auf keinen Fall! Wenn ich diese Hintergründe über mich also jetzt so genau schildere, so tue ich das, damit du eines Tages verstehst, wie alles gekommen ist. Eines auf jeden Fall sage ich hier klipp und klar: Ich habe keine Gründe, mich umzubringen! (Genauso wenig wie Maurice!)
Zugegeben, es gab Zeiten, da habe ich manchmal an so was gedacht. (Und wer tut das nicht mal?) Wenn es in der Schule weiter bergab ging, wenn sie mich wieder mal gemobbt und ausgelacht haben, wenn meine Eltern sich tagelang wegen dem Scheißgeld angeschrien haben usw. Solche Phasen hat wohl jeder irgendwann. Doch seit ich dich kenne, ist das alles anders geworden! Du bist ein Supermädchen! Ich glaube, ich bin seit einiger Zeit sogar voll verknallt in dich. Alle sagen, du würdest in mir nur so eine Art Ersatzbruder sehen. Ich hoffe sehr, dass das nicht der Fall ist! Und dass ich in diesen öden Ferien zu Hause herumhänge und dich nicht sehen kann, weil du in Italien Urlaub machst, ist auch ein Grund, warum ich jetzt in dieses Buch schreibe. Ich sitze gerade eingemummelt im Bett. Die Heizung ist aus, wir müssen sparen und –
Die alte, geschwungene Türklinke senkte sich quietschend. Max sah hoch. Schorsch, der ausgestreckt auf dem Bettvorleger geschlafen hatte, setzte sich auf und spitzte die Ohren, so weit das bei seinen langen Schlappohren möglich war. Max ließ Buch und Schreibstift schnell unter die Bettdecke verschwinden. Der graue Haarschopf seiner Großmutter schob sich vorsichtig durch den Türspalt.
»Oh, ich dachte, du schläfst. Es war so still«, sagte sie, schloss leise hinter sich die Tür und trat mit einem Schritt an sein Bett, das unter der Dachschräge den größten Teil des Zimmers einnahm. Der Cockerspaniel umtänzelte sie schwanzwedelnd. Sie streichelte ihm sanft über das goldbraune Fell.
»Bin gerade wach geworden«, erklärte Max.
Frau Wirsing betrachtete ihren Enkel, wie er da mit angezogenen Beinen im Bett saß und entdeckte eine Ecke des Buches, die unter der Bettdecke
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