Eden
anderen.
Es war ein wolkenverhangener Frühlingsmorgen. Zum ständig in der Luft hängenden Gestank der Untoten drang immer wieder ihr Stöhnen über die Mauer.
»Was gibt’s?«, fragte Harris den Hünen.
»Kannst du ein Auge auf Diaz haben?«, bat Buddy mit einem vielsagenden Blick über die Schulter. Ein Dutzend Männer und Frauen versammelte sich um den Kanaldeckel auf halber Höhe des Blocks, ein Suchtrupp, um neue Vorräte für Eden zu beschaffen.
Diaz war ein junger Draufgänger. Aus dem Norden von Manhattan, eine Tatsache, die er niemanden vergessen ließ. Vor seinem Haus in Eden wehte die Fahne der Dominikanischen Republik. Bis jetzt zumindest hatte der aktuelle Weltuntergang es noch nicht geschafft, Diaz Angst zu machen. Soweit er überhaupt eine Wirkung zeigte, hatte er den Burschen nur noch hektischer gemacht. Die Hektik war sein Markenzeichen. Manchmal brodelte sie unter der Oberfläche, manchmal war sie auch besonders ausgeprägt. Das kam von dem ganzen PCP, das er rauchte.
»Er macht gerade einiges durch«, fuhr Buddy fort. »Ich weiß nicht, wozu er fähig wäre.«
Die vorige Nacht hatte dem Großmaul den Wind aus den Segeln genommen: Seine Freundin Shannon hatte sich angesteckt. Sie war jetzt in Diaz’ Haus und verbrachte ihre letzten Stunden in der Obhut einiger anderer Frauen. Julie konnte Diaz nicht ausstehen, aber sie hatte ihren Widerwillen überwunden, um Shannon zu trösten, so gut es eben ging. Hinter Diaz’ Rücken meinten alle, was für ein Wunder es war, dass Shannon so lange durchgehalten hatte.
Wer gebissen wurde, dessen Stunden waren gezählt.
Das Ergebnis war unvermeidlich.
»Meinst du, er könnte durchdrehen?«, fragte Harris.
Bobby Evers ging mit Sal Bianaculli eine Liste benötigter Vorräte durch. Harris schnappte »Ibuprofen« auf.
»Wieso könnte?« Buddy warf ihm einen fragenden Blick zu. »Wenn du mich fragst, ist das längst passiert.«
Harris hatte so eine Ahnung, was er damit meinte, fragte aber trotzdem. »Wie kommst du darauf?«
Es war ein etabliertes Ritual der beiden Männer. Harris behandelte Buddy als eine Art Vaterersatz. Manchmal war es ein Spiel, manchmal allerdings auch ernst gemeint, jedenfalls von seiner Seite.
»Normalerweise ist der Knabe in seinem Tatendrang doch kaum zu bändigen. Und jetzt sieh dir an, wie still er geworden ist. Geradezu in sich gekehrt.«
Harris nickte. Diaz hielt sich sichtlich bedeckt. Als Shannon verletzt worden war, war Diaz außer sich gewesen, hatte laut auf Spanisch und Englisch herumgebrüllt, das Spanisch viel zu schnell für Harris. Zusammen mit Buddy, Davon und noch vier oder fünf anderen Männern hatten sie Diaz festhalten müssen, so gut es eben ging, damit Evers, Tina und Bianacullis Frau Shannons Blutung stillen und sie zurück ins Haus bringen konnten. Als sie ihn schließlich zu Boden gedrückt hatten, hatte Buddy gefragt, ob er sich wieder im Griff hätte. Diaz’ Pupillen waren riesig gewesen, sein Blick hektisch. Aber sein Körper war schlaff, widersetzte sich nicht mehr. Mehr war wohl nicht zu erwarten gewesen. Er hatte nicht geantwortet, aber sie hatten ihn trotzdem losgelassen, und er war zu Shannon gegangen.
Thompson rückte Pana den leeren Rucksack zurecht. Der Trupp brach mit leeren Rucksäcken auf, in der Hoffnung, sie voll zurückzubringen.
»Plastikfolie«, las Sal Bianaculli vor.
»Yeah«, bestätigte Harris. »Ich weiß, was du meinst.«
Buddy nickte ihm zu und drehte sich zur Gruppe um. »In Ordnung, alles fertig?«
Kopfnicken, Bejahungen, ein Grunzen.
Er hob die Satteltaschen von der Straße und hängte sie sich über die breiten Schultern. Die Schrotflinte hatte er schon umgehängt, eine große Halbautomatik, deren Magazin zwölf Schuss fasste. Buddy nickte Thompson zu, und der jüngere Mann hebelte mit einem Brecheisen den Kanaldeckel auf.
Das Ding musste mindestens hundert Kilo wiegen. Harris erinnerte sich, wie er in Queens gelebt hatte, bevor er mit Raquel in die Vororte gezogen war. Einmal hatte es nachts eine gewaltige Explosion weiter unten an der Straße gegeben. Die ganze Nachbarschaft war aus den Betten gesprungen und hatte einen Terroranschlag vermutet. Harris hatte Angst gehabt, irgendwo in der Nähe sei ein Flugzeug auf die Stadt gestürzt. Es wäre nicht das erste Mal gewesen.
Aber es war nur eine Gasexplosion in der Kanalisation gewesen, die einen Kanaldeckel in den Himmel geschleudert hatte. Das Ding hatte beim Herunterfallen Dach und Windschutzscheibe eines
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