Eden
sechs Jahren als Assistenzlehrerin in Hillcrest und war bei den Schülern durchaus beliebt. Sie war Mitte vierzig und hatte drei Söhne. Susan wusste immer den neuesten Klatsch, egal ob über Hollywoodstars oder Lehrerkollegen.
»Hi, Susan.«
Die andere Frau wirkte entgeistert.
»Was ist los?«
»Ich weiß es nicht … Ich war im Deli und hab was im Radio gehört. In der Stadt ist ein Aufstand oder so etwas.«
»Was?« Joy verstand nur Bahnhof.
»Es ist völlig bizarr. Sie haben die Musik plötzlich unterbrochen und gemeldet, dass die Nationalgarde ausgerückt sei, um irgendetwas niederzuschlagen, einen Bandenkrieg oder so. Es soll sich von der Innenstadt aus die Fifth Avenue hinauf ausbreiten.«
»Ich weiß von nichts«, erwiderte Joy und machte sich im selben Augenblick klar, wie dumm das war. Natürlich wusste sie von nichts. Sie hatte den ganzen Morgen im Klassenzimmer unterrichtet und versucht, ihren Schülern Faktorenrechnung beizubringen.
»Falls Sie Näheres herausfinden, lassen Sie es mich wissen.« Susan war sichtlich unruhig und wollte fort.
Susan versprach es und verschwand Richtung Hillcrest. Joy ging in Gedanken versunken weiter. Ein Aufstand? In New York? Auf der Fifth Avenue? Bandenkrieg? Teufel, was geht da vor?
Sie blieb stehen und sog die Novemberluft ein. Noch nicht so kalt und frisch, wie Ed sie mochte. Das würde noch kommen.
Irgendetwas an dem, was Susan gesagt hatte, beunruhigte sie.
Ed arbeitete auf der Fifth Avenue. Zwischen der vierundvierzigsten und der fünfundvierzigsten Straße. Das Gebäude war gut gesichert, mit eigenen Wachleuten. Eds Büro lag im sechzigsten Stock, weitab von allen Gewaltausbrüchen bei Protestmärschen, weitab von allem, was auf der Straße geschah.
Und trotzdem …
Plötzlich hatte ihr Appetit auf ein Truthahnsandwich spürbar nachgelassen. Selbst mit Mayo.
Joy drehte um und ging zurück nach Hillcrest. Sie beschleunigte das Tempo. Sie rannte zwar nicht, aber sie marschierte schnellen Schritts.
Ihr Handy lag in der abgeschlossenen Schreibtischschublade.
Sie war froh, dass die Flure leer waren, als sie die Schule erreichte. Die Kinder waren im Unterricht.
Sie ging in ihr Klassenzimmer und schloss die Tür hinter sich, ohne abzuschließen.
Dann setzte sie sich in den Chefsessel und öffnete die Schublade, in der sie während der Arbeitszeit ihre Wertsachen einschloss. Joy mochte die meisten Kinder in Hillcrest, aber sie wollte keines von ihnen in Versuchung führen, ihre Handtasche zu durchwühlen.
Die zehn Sekunden, bis das Handy hochgefahren war, fühlten sich an wie zehn Minuten.
Joy blickte auf den Bildschirm, drückte ein paar Tasten. Eds Büronummer war gespeichert. Keine Nachrichten.
Das Gerät wählte …
Es klingelte.
»Hallo?«
»Ed, Joy hier. Was ist da los?«
»Joy, du glaubst nicht, was hier abgeht. Unten auf der Straße ist die Hölle los. So was hab ich noch nicht gesehen. Schalt die Nachrichten ein, Joy. Sie fressen Menschen …«
»Ed? Ed?«
Aufgelegt.
Wiederwahl. Eine schnelle Abfolge von Fieptönen, ein Klingeln, dann eine Stimme vom Band: Zurzeit sind alle unsere Leitungen besetzt.
Sie atmete durch und wählte neu.
Zurzeit sind alle unsere Leitungen besetzt.
Sie klappte das Handy zu, stand auf und verließ das Klassenzimmer. Die Tür ließ sie offen stehen. Sie marschierte auf direktem Wege ins Lehrerzimmer im ersten Stock. Unterwegs versuchte sie es noch zweimal und bekam beide Male nur dieselbe Bandmitteilung. Der Direktor stand am Kopiergerät.
»Joy, was ist los?« Er sah die Besorgnis auf ihrem Gesicht.
»Können wir das in Ihrem Büro besprechen?« Sie deutete zur Tür.
Der Direktor sah sich kurz um. Hillcrests Sekretärin wartete am Telefon auf eine Verbindung, um Bürobedarf zu bestellen. Der Englischlehrer surfte im Netz.
»In Ordnung, kommen Sie.«
Das Büro des Direktors lag gleich nebenan.
Als er die Türe schloss, sah Joy die Sekretärin verdutzt den Telefonhörer anstarren.
Sie setzte sich aufs Sofa, lehnte sich vor, die Hände auf den Knien, und deutete auf den Fernseher im Regal. Ein Gerät mit eingebautem Videorekorder, jederzeit für Unterrichtszwecke verfügbar.
»Bekommt man damit lokale Sender?«
Aus dem Lehrerzimmer drang die Stimme des Englischlehrers. »Mein Gott, schauen Sie sich das an!«
»Ja, sicher«, bestätigte Mister Harris, schon auf dem Weg zum Regal.
»Schalten Sie bitte ein.«
Er tat es.
3
»Du, Harris«, Buddy zog seinen Freund zur Seite, außer Hörweite der
Weitere Kostenlose Bücher