Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Akt der Gewalt

Ein Akt der Gewalt

Titel: Ein Akt der Gewalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ryan David Jahn
Vom Netzwerk:
identifizierbare Flocken und Krümel von irgendwas übersäen den Boden.
    Er überlegt, ob er vielleicht jetzt staubsaugen solle, bevor er das hier hinter sich bringt. Er führt sich vor Augen, dass jemand die Wohnung wird säubern und seine Sachen hier wird herausholen müssen, um sie dann zu begutachten und festzustellen, was noch verkauft werden kann, damit die Schulden beglichen werden, die man bei Durchsicht seiner Rechnungen addiert hat. Und so weiter. Vielleicht hätten sie es etwas leichter, wenn er noch staubsaugen würde. Aber müssten sie nicht ohnehin den Teppich auswechseln? Auch wenn er nichts von seiner Hirnmasse darauf verspritzen würde – was sich aber kaum vermeiden ließe -, dürfte er vermutlich auf den Boden fallen, und wenn eine Woche verginge, bevor ihn jemand fände, hätte er mit Sicherheit begonnen auszulaufen, und der Teppich wäre ruiniert.
    Ja, vorher noch staubzusaugen, lohnt sich nicht. Besser, es gleich hinter sich zu bringen.
    Er geht zu seinem Sessel und setzt sich wieder. Er beugt sich vor, um den Couchtisch als Schreibunterlage zu benutzen,
aber hält inne. Tippt mit dem Bleistift auf die Tischoberfläche, denkt darüber nach, was er sagen will. Er fragt sich, wer wohl als Erster Bleistift gesagt hat.
    An alle, die es betrifft, schreibt er und denkt, dass diese förmliche Anrede wahrscheinlich unangemessen ist, aber er fährt dennoch fort: Wenn es tatsächlich jemanden geben sollte, den es betrifft, was ich allerdings bezweifle: In meinem Leben ist nichts Tragisches geschehen. Einen Grund für das hier werden Sie nicht finden. Sie werden nur das Fehlen eines Grundes finden. Es gab einfach keinen Grund, nochmal aufzuwachen. Warum ins Auto steigen, wenn man kein Ziel hat, zu dem man fahren kann?
    Er unterschreibt die Notiz.
    Er liest sie zweimal, nickt bei sich und legt den Bleistift zur Seite.
    Er greift nach der Waffe und setzt sie sich ein drittes Mal an die Schläfe.
    Er fragt sich, warum es keine guten Selbstmordwitze gibt. Wenn man darüber nachdenkt, hat Selbstmord doch auch etwas Komisches, etwas irgendwie Lächerliches.
    Er sitzt da, hält den Lauf der Waffe fast zwei Minuten lang an den Kopf gepresst, bevor er sie ein weiteres Mal absetzt und auf den Couchtisch legt. Dann steht er auf.
     
     
    Thomas besitzt zwei Anzüge, einen passablen und einen guten. Der passable ist hellgrau und würde für ein Vorstellungsgespräch taugen, der gute Anzug ist schwarz, aus Qualitätstuch und wäre passend bei Beerdigungen oder sonstigen offiziellen Anlässen. Thomas trägt den passablen. Er möchte anständig aussehen, wenn sie ihn finden, selbst wenn er dann aufgedunsen ist und das Blut sich in seiner unteren Körperhälfte gesammelt hat und langsam wie
Schweiß aus seinen Poren sickert. Seinen guten Anzug will er aber nicht ruinieren. Den werden sie brauchen, um ihn darin zu beerdigen.
    Er steht vorm Spiegel der Frisierkommode, rückt seine Krawatte zurecht, nimmt dann einen Kamm zur Hand, befeuchtet ihn mit Speichel und versucht die schütteren grauen Haarbüschel glattzukämmen. Sie fügen sich für einen kurzen Augenblick, bevor sie wieder hochschnellen.
    »Verdammt nochmal«, sagt er.
    Er leckt sich die Fingerspitzen und versucht die Büschel anzudrücken, aber sie stellen sich im Nu wieder auf.
    Er spürt, dass sich sein Magen verkrampft, wie es stets der Fall ist, wenn Thomas glaubt, die Kontrolle über eine Situation verloren zu haben.
    Vor ungefähr fünfzehn Jahren hatte sich bei ihm einmal ein Stückchen Fleisch in einem Zahnzwischenraum festgesetzt, an den Backenzähnen hinten links, und er versuchte immer wieder, es mit der Zunge hervorzuangeln. Es gelang ihm nicht, und sein Magen verkrampfte sich. Also versuchte er, das Problem unter Zuhilfenahme eines Fingernagels zu lösen, aber auch das misslang. Er aß mit einer Frau aus der Firma zu Abend und saß ihr im Restaurant gegenüber. Also gab er sich alle Mühe, nicht mehr daran zu denken. Aber auch das gelang ihm nicht. Jedes Mal wenn es ihm wieder einfiel, jedes Mal wenn seine Zunge das winzige Stück Fleisch zufällig fand, verkrampfte sich sein Magen noch stärker, ihm wurde speiübel, und er spürte, wie die Galle in seinen Rachen aufstieg.
    Schließlich hatte er sich entschuldigen müssen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als auf die Toilette zu gehen und sich daranzumachen, die Fleischfaser zu entfernen. Er verfluchte sich dafür, überhaupt Roastbeef bestellt zu haben. Jedenfalls ließ sich die Faser aus

Weitere Kostenlose Bücher