Ein Akt der Gewalt
aufbewahren.
»Geh spielen«, sagte sie immer, eine Zigarette mit Lippenstiftspuren zwischen zwei ihrer Klauenfinger mit den vielen Leberflecken, »deine Großmutter hört sich ihre Lieblingssendungen an.«
»Was ist mit deiner Tochter?«, fragt Christopher.
»Sie ist mitgereist nach Kalifornien.«
»Mitten im Schuljahr?«
»Frühlingsferien«, sagt Thomas.
»Ich dachte, die Frühlingsferien seien erst nächsten Monat.«
Thomas zuckt die Achseln. »Inoffizielle Frühlingsferien.«
Er stößt die Eingangstür zu und schiebt den Riegel vor.
Christopher geht hinüber zur Pistole auf der Sessellehne, nimmt sie auf und wiegt sie in den Händen.
»Was ist das?«
»Ein PEZ-Spender.«
»Ist geladen.«
»Ich mag PEZ.«
Christopher legt die Pistole zurück und nimmt den Umschlag in die Hand, auf den Thomas seine Abschiedsworte geschrieben hat.
»Mensch, Thomas«, sagt er. »Kein Grund, nochmal aufzuwachen? Du hast Frau und Tochter. Das dürften doch zwei Gründe sein, oder? Es gibt Menschen, die wirklich nichts haben, und trotzdem finden sie Gründe, jeden Morgen aus dem Bett zu steigen.«
Thomas reibt sich die Wange und spürt Bartstoppeln.
»Ich hätte mich rasieren sollen.«
»Was?«
Er schüttelt den Kopf. »Nichts.« Dann: »Ich finde es nicht bewundernswert, einfach nur so am Leben zu bleiben. Wenn man keinen Grund hat, morgens aufzuwachen … ich meine, keinen Grund außer der Arbeit … was soll das alles dann noch?«
»Du hast doch einen Grund. Sogar zwei. Du hast eine Frau und eine Tochter.«
»Und wenn ich sie nicht hätte?«
»Ist aber nicht so«, sagt Christopher. »Und selbst wenn du sie nicht hättest, würdest du dir deine eigenen Gründe schaffen. Man legt nicht einfach die Hände in den Schoß und gibt auf. Man macht nicht so einfach Schluss.«
»Warum denn nicht? Was ist so besonders am Leben?«
Christopher sieht ihn lange schweigend an und sagt dann: »Es ist alles, was wir haben.«
Unten wechselt jemand die Platte und dreht noch lauter auf. Thomas stampft wütend auf den Boden.
»Macht ihr den Scheiß endlich leiser!?« Er sieht Christopher an. »Ich bin kurz davor, jemanden umzubringen, verdammt.«
»Soll ich runtergehen und mit ihnen sprechen?«
Thomas schüttelt den Kopf, atmet laut aus, beruhigt sich – zwingt sich dazu.
»Nein. Die sind jung und so voller Leben.« Er seufzt. »Die Zeit wird sich ihrer annehmen.«
»Sie wird sich unser aller annehmen.«
Thomas nickt zustimmend.
»Also warum versuchst du, die Dinge zu beschleunigen?«
Thomas öffnet den Mund, bringt aber keinen Ton heraus.
7
»Du bist ein ganz Schlimmer«, sagt Bettie Paulson kichernd zu ihm, als er die Hand vom Lautstärkeregler des Plattenspielers nimmt.
Tatsächlich ist er sich in seinem ganzen Leben noch nie so unanständig vorgekommen – so ausgesprochen sittenlos.
Wenn man Peter Adams noch eine Woche zuvor gesagt hätte, er würde sich demnächst zusammen mit der hüllenlosen Frau seines Arbeitskollegen im selben Zimmer – seinem eigenen Schlafzimmer – aufhalten, während seine Ehefrau sich im Nebenzimmer befände, er hätte es niemals geglaubt.
Peter ist dreiunddreißig und ein Saubermann. Er lässt sich sein Haar wöchentlich stutzen, ob es nötig ist oder nicht. Er hat einen kleinen Bierbauch, der in diesem Moment über den Bund seiner weißen Unterhose quillt, des einzigen Kleidungsstücks, das er am Leib trägt, aber trotz der Wampe und der Tatsache, dass er nicht mehr in den Zwanzigern ist, sieht man, dass er darauf Wert legt, sich in Schuss zu halten. Unmöglich, sich ihn mit schmutzigen Fingernägeln oder einem Hammer in der Hand vorzustellen, er ist ein Mann, der den Klempner ruft, wenn die Toilette verstopft ist.
Peter verschränkt die Finger hinter dem Kopf und schwingt die Hüfte herum.
»Das liebst du doch«, sagt er.
»Stimmt«, bestätigt Bettie.
Peter greift sich seinen mit Wasser verdünnten Whiskey von der Kommode, auf der er ihn abgestellt hat, als er beschlossen hat, die Platte zu wechseln. Das Glas hat einen Kondenswasserring auf dem Holz hinterlassen. Als er den Ring sieht, verflucht er sich dafür, dass er keinen Untersetzer benutzt hat. Er spielt mit dem Gedanken, Möbelpolitur und einen Lappen zu holen. Er möchte keinen Fleck auf der Kommode. Aber dann sieht er Bettie, die nackt im Bett sitzt und auf ihn wartet. Ihre tränenförmigen Brüste mit den großen zartrosa Nippeln betteln geradezu darum, gestreichelt und geküsst zu werden, und deshalb gibt er
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