Ein delikater Liebesbrief
geradezu spießigen Marquis Bonnington, wie er Löcher in die gefrorene Erde grub oder Obstzweige hochband, war einfach unwiderstehlich. Esme brütete schon zwei Tage über der Frage, wo Sebastian eigentlich wohnte oder ob er aufgegeben und die Gegend verlassen hatte. Die ganze Situation stellte ihre Welt völlig auf den Kopf. Als Sebastian noch mit Gina verlobt gewesen war, hatte er sie, Esme, des Öfteren wegen ihres leichtsinnigen Benehmens getadelt. Was aber konnte leichtsinniger sein als sein derzeitiges Verhalten?
Was war nur aus dem nüchternen bedächtigen Marquis geworden, der keine Entscheidung traf, ohne zuvor sein Gewissen befragt zu haben? Vielleicht hatte der Umstand, dass sein Ruf ruiniert war, ihn zu einem völlig anderen Menschen gemacht, ihn von der Last gesellschaftlicher Regeln befreit.
Esme stand gerade am Schlafzimmerfenster – sie wollte gar nicht daran denken, wie oft sie sich dabei ertappt hatte, das Gelände hinter dem Haus mit Blicken abzusuchen –, als sie die Gestalt eines hochgewachsenen, breitschultrigen Mannes entdeckte, der den Weg zum Obstgarten entlangmarschierte. Sie schaute ihm nach, solange er sich in ihrem Blickfeld befand.
An Sebastian hatte sich eine tiefgreifende Veränderung vollzogen. Sie hätte schwören können, dass er ein fröhliches Liedchen pfiff, obwohl sie ihn weder hören noch sein Gesicht sehen konnte. Und sein Gang hatte sich auch verändert, es war nicht länger der steife Gang des Marquis’, sondern der eines freien Mannes. Esme konnte nicht umhin, sich zu fragen, ob er sich auch in anderer Hinsicht verändert hatte. Ob zum Beispiel die Küsse eines konventionellen Marquis anders schmeckten als die eines Gärtners?
Nicht dass ihr Sebastians Küsse missfallen hätten, aber so führte ein Gedanke zum nächsten: Würde er auf andere Art mit ihr das Bett teilen, weil er nun nicht mehr in feinen Leinenlaken, sondern in einer Gärtnerkate schlief?
Dass sie die einzige Frau auf Erden war, die wusste, wie Sebastian Bonnington sich der körperlichen Liebe hingab, brachte sie zum Schmunzeln. Aufgrund seiner steifen Moral war er bis zu jener gemeinsamen Nacht immer noch unberührt gewesen.
Sebastian hatte nun den Obstgarten erreicht und begann dort anscheinend, die Zweige zu beschneiden. Es war einfach zu verlockend! Sie musste nachsehen, was er da trieb. Es war doch nur selbstverständlich, dass die Hausherrin Interesse am Zustand ihres Gartens zeigte.
Der Rasen war mit Raureif überzogen, sodass Esme sehr vorsichtig den Hang hinunterschritt und am Rosengarten vorüberging. Mehr als einmal rutschte sie, und das Einzige, was sie von der Umkehr abhielt, war die Erkenntnis, dass sie vermutlich einen starken Arm benötigen würde, um den Hang wieder hinaufzugelangen.
Er pfiff nicht, er sang – und es war nicht gerade ein Kirchenlied.
» Meine Herrin ist ein’ Nachtigall, sie singt so süß wie Honig .« Er brach ab und hackte einen weiteren Trieb von dem Apfelbaum, den er zurechtstutzte. Seine Stimme war ein tiefer voller Bariton. » So schön wie einst Philomele, die Tochter eines Königs .«
»Das ist ja wunderschön!«, sagte Esme.
Sebastian fuhr herum. Langsam breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. »Mylady.« Und er senkte den Kopf, wie es sich für einen Arbeiter vor der Herrin geziemt.
»Lass das«, sagte sie und musste gegen ihren Willen grinsen. »Du hast vergessen, deine Mütze abzunehmen«, mahnte sie dann.
Er zog eine Augenbraue hoch. »Ich nehme meine Mütze nur für die Männer im Hause ab. Mit Weibsbildern, die sich in meine Arbeit einmischen, will ich nichts zu tun haben.«
»Ach, halt doch den Mund«, sagte Esme. »Kennst du noch mehr Strophen, Sebastian? Es ist ein wunderschönes Lied.«
»Es ist kein Lied für Damen.«
»Aber ja doch!« Esme hatte ein gutes Gedächtnis und wiederholte den Vers mit hoher klarer Stimme: » So schön wie einst Philomele, die Tochter eines Königs . Wunderschön. Ist das ein Lied vom Hofe Heinrichs des Achten? Es klingt ein wenig wie diese alten Balladen.«
Esme hätte nie gedacht, dass der korrekte Marquis so verschlagen dreinschauen könnte. Er lehnte lässig an einem Apfelbaum, die Arme vor der Brust verschränkt. Seine Stimme war honigsanft. » So schön wie einst Philomele, die Tochter eines Königs. Und in der dunklen Nacht im Ried lehnt sie sich gerne an ein Glied .«
Esme schnappte nach Luft.
Sebastian grinste. »Ich würde sagen, es stammt aus der Zeit nach Heinrich. Ich habe es in
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