Ein Jahr in Lissabon
drang, die Schiffshupen, die ich vom Tejo hörte. Ich verliebte mich Hals über Kopf in die beiden alten Herren, die auf einer Parkbank ihr Nickerchen hielten, in die Frau, die ein Holzkistchen mit einem Kanarienvogel spazieren trug, in den Schuhputzer, der sein Werkzeug ordnete, in den Metzger, der ein komplettes Spanferkel über die Straße wuchtete, in die Katze, die von ihrem Frauchen an der Schnur im Jutesack aus dem Fenster auf die Straße hinabgelassen wurde, und in den Kellner, der mit weißem Hemd und schwarzer Hose in der Tür stand, um eine Zigarette zu rauchen. Ich war von einer Sekunde auf die andere verschossen in die Poesie dieser Stadt und fühlte mich, während ich durch all diese Momentaufnahmen hindurchging, wie in einem Film, der gemeinsam von Fellini, Bergman und Kaurismäki gedreht wurde. Nur unter einer Bedingung hatte ich mich damals dazu überreden können, wieder ins Flugzeug nach Deutschland zu steigen – unter der Bedingung, zurückzukehren. Für länger. Für ein ganzes Jahr.
Sieben Stücke portugiesisches Gebäck, ein Bratapfel und ein Kellner waren nötig gewesen, um mich – gebeutelt, wie ich von einem ersten, unverhofft frühen Kulturschock war – an all das zu erinnern. Doch nun, da ich den Magen voll Lissabon habe, steigt Lissabon mir auch zurück ins Herz – begleitet von einer unbändigen, erwartungsvoll prickelnden Neugierde auf all das, was kommen wird.
Ich schiebe die leeren Kuchenteller weg, ziehe das Vokabelheft aus meiner Tasche und finde, dass es viel zu viele leere Seiten hat. Nichts als die zehn Wörter, die ich mir heute im Unterricht aufgeschrieben habe, steht darin. Dabei wartet es doch nur darauf, gefüllt zu werden! Mit Vokabeln. Und mit all den Besonderheiten des portugiesischen Alltags,über die ich in den ersten Tagen stolpere, weil sie so neu sind. So neu und ungewohnt. So aufregend anders eben. Vamos lá!
• Die erste Lektion, die ich in Lissabon erhalte, heißt Suppe. Sie könnte auch Herzlichkeit oder Gastfreundschaft oder Familie heißen, aber ich muss ja nicht gleich mit so großen Begriffen hantieren. Ich habe diese Lektion bereits gestern, zwei Stunden nach meiner Ankunft am Flughafen gelernt, als mir die Familie vorgestellt wurde, bei der ich die kommenden zwölf Monate leben werde. Die Mutter, Marta, ist eine fünfzigjährige schöne Lisboeta, nicht mit dunklen, sondern blonden Haaren und strahlend blauen Augen. Jorge, der Vater, begrüßt mich mit den Worten „Bem-Vindo à Lisboa“, willkommen in Lissabon, und Felipe, der einundzwanzigjährige Sohn, der die gleichen blauen Augen wie seine Mutter hat, findet es, glaube ich, nicht so erquickend, dass da jetzt eine Fremde ins Zimmer neben ihm einziehen wird. Aber das macht nichts. Denn jetzt wird erst einmal Suppe gegessen. Ja, ich weiß, mir scheint das auch überraschend und irgendwie unpassend für ein südliches Land, aber Suppe ist von immenser Bedeutung in Portugal. Man kann sie in jeder Pastelaria für einen Euro bestellen und etwas garantiert Köstliches, Hausgemachtes kriegen. Nicht, wie man meinen würde, etwas Leichtes, Kaltes, den Temperaturen Angemessenes. Sondern üppige, schwere, sämig pürierte Gemüsesuppen. Suppen, die ganz weich die Kehle hinunterrinnen und von innen wärmen. Suppen, die irgendwie zufrieden machen. Suppen, die stärken und stabilisieren. Sodass der Schock nicht ganz so groß ist, wenn Marta, die bisher ein sehr gutes Englisch mit mir gesprochen hat, mir nun eröffnet, dass wir ab morgen nur noch auf Portugiesisch reden werden. Weil ich es ja sonst nicht lerne. „Está bem?“
• In der zweiten Lektion erfahre ich, dass man in Portugal kein Englisch braucht. Nicht nur, weil Marta Portugiesisch mit mir reden will, sondern weil man hier nicht auf Worte wie O.K. angewiesen ist. Man hat hier nämlich sein eigenes O.K. Und das heißt: „Está bem?“, sprich: „Tá bejm.“ Man muss diese beiden Worte circa 872 Mal pro Tag anwenden und kann das in verschiedenen Schattierungen tun, herausfordernd, ermutigend, vorwurfsvoll, zärtlich. Manchmal kann man auch abkürzen und einfach nur bestätigend „Tá, tá“ sagen. Wenn die Sache sowieso schon klar ist. Oder wenn einem vor Schreck darüber, dass ab morgen nur noch Portugiesisch gesprochen werden soll, die Suppe im Hals stecken geblieben ist.
• Als Drittes erfahre ich, dass auch jetzt, wo ich mich verschluckt habe, trotzdem alles gut ist. Nicht 872, aber 623 Mal am Tag sagt man hier nämlich „Tudo bem?“
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