Ein Kuss fur die Unsterblichkeit
der
linken Hand rieb er geistesabwesend die kleine Narbe an seinem Kinn. Ich
wusste, dass das ein Zeichen für seine versteckte Anspannung war, und meine
eigene Aufregung wurde nur noch schlimmer.
Wenn Lucius schon nervös ist, wie soll
ich das hier bloß überstehen?
Mein
Ehemann schien meine wachsende Angst zu spüren und warf mir einen kurzen Blick
zu, der wohl heißen sollte: »Flipp jetzt nicht aus, Jess. Wir haben darüber
geredet. Dies gehört zu unseren Pflichten.«
Natürlich
hätte Lucius nicht direkt das Wort »ausflippen« benutzt, aber wir hatten über
meine neuen Aufgaben gesprochen und dazu gehörte nun mal auch das Recht oder
vielmehr die Pflicht, bei Gerichtsverhandlungen Urteile zu fällen – und
manchmal eben auch weniger schöne ...
»Der
Angeklagte möge vortreten.«
Ich zuckte
zusammen, als Lucius' gebieterische, tiefe Stimme plötzlich von den Wänden
widerhallte. Suchend schaute ich mich um, bis ich am anderen Ende des Raumes
einen Vampir mit hängendem Kopf und gefesselten Händen entdeckte. Bei seinem
Anblick rutschte mir endgültig das Herz in die Hose.
Er ist
ein Mörder, rief
ich mir ins Gedächtnis. Eine ganze Reihe von Zeugen hat gesehen, wie er meinen Onkel Constantin Dragomir vernichtet hat. Und ich bin doch eigentlich auch
nur eine Geschworene. Gewöhnliche Menschen machen so etwas ständig!
Ich sah
nach links, um mich zu vergewissern, dass ich nicht allein über das Schicksal
des Gefangenen entscheiden würde, der sich nun schlurfend auf den blanken
Fleck auf dem
Boden zubewegte. Aber Onkel Dorin, der einzige der Ältesten, den ich als meinen
Verbündeten ansah, war nicht da. Mein Blick blieb schließlich an Claudiu
Vladescu hängen, der mich unverhohlen angrinste. Vielleicht amüsierte
er sich über die wachsende Panik, die mir offenbar ins Gesicht geschrieben
stand. Oder er freute sich schon darauf, in allen Einzelheiten von dem Mord
berichtet zu bekommen, der hier gleich verhandelt werden würde.
Mir wurde
ganz flau im Magen. Claudiu ist genauso bösartig und grausam wie sein
älterer Bruder Vasile, den Lucius vernichtet hat ...
Obwohl mir
klar war, dass ich für eine Prinzessin viel zu viel auf meinem Stuhl
herumrutschte, drehte ich mich wieder zu Lucius um, als er mit einer Ruhe, die
ich niemals aufgebracht hätte, sagte: »Erzähl diesem Gremium, was vorgefallen
ist, Dumitru Vladescu, und wir werden darüber entscheiden, ob du Gnade
verdienst – oder Strafe.«
Auch ich
hätte meine volle Aufmerksamkeit dem Vampir widmen sollen, für den es hier
buchstäblich um Leben und Tod ging, aber ich konnte die Augen nicht von meinem
Mann lassen, der selbst nur einige Monate zuvor auf ebendemselben Fleck
gestanden hatte und Gott sei Dank für nicht schuldig an Vasiles Tod erklärt
worden war. Die Mehrheit der Ältesten – Claudiu natürlich ausgenommen – hatte
glücklicherweise geglaubt, dass Vasile zuerst angegriffen hatte und Lucius
keine Wahl geblieben war, als sich zu verteidigen.
Ich mochte
gar nicht darüber nachdenken, was hei jener Verhandlung hätte passieren können,
und ich war wirklich froh, dass ich erst lange nach der Urteilsverkündung überhaupt
davon erfahren hatte.
Mein Blick
ruhte immer noch auf Lucius und ich fragte mich: Wie kann er es bloß
ertragen, in diesem Raum zu sein,
ganz davon zu schweigen, die Verhandlung zu führen? Wie schafft er es, dabei
so gelassen zu bleiben? Und wenn der Angeklagte heute für schuldig befunden
wird, muss er ihn
dann nicht ...?
»Sprich«,
forderte Lucius seinen Verwandten erneut auf. »Dies ist deine Chance, dein
Leben zu retten.«
Lucius'
Stimme klang gebieterisch und war doch voller Mitgefühl. Trotzdem gefror mir
das Blut in den Adern. Heute wird vielleicht tatsächlich ein Leben beendet.
Ich bin nicht nur Teil der Jury. Ich bin die Richterin und vielleicht ist
Lucius der ...
Ich krallte
die Finger in meinen Stuhl und mit einiger Überwindung schaffte ich es
schließlich, Dumitru Vladescu anzusehen. In dem Moment hob der Angeklagte den
Kopf und ich schaute in seine dunklen Augen, die voller Angst waren, denn wenn
er für schuldig erklärt werden sollte ...
»Nein!«
Matte ich
gerade laut aufgeschrien? Selbst wenn, wäre meine Stimme in dem
ohrenbetäubenden Kreischen untergegangen, mit dem die Beine meines Stuhls über
den Boden rutschten, als ich hastig aufsprang. »Entschuldigung«, murmelte ich
mit gesenktem Kopf. »Ich ... ich muss gehen. Mir geht es nicht gut ...«
Ich konnte
Lucius nicht in die Augen
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