Jerry Cotton - 0551 - Heisser Draht zum Kidnapper
»Endlich!« sagte der Mann in der Windjacke vorwurfsvoll und verschaffte sich rücksichtslos mit dem Ellbogen freien Durchgang. Die dicke Frau, die aus der Telefonzelle kam, schaute den Mann grimmig an, stieß einen mißbilligenden Laut aus und ging wortlos von dannen. Der Mann in der Windjacke trat in die Kabine, schloß sorgfältig die Tür hinter sich, warf die Münze in den Schlitz und wählte eine Nummer, die er vorher aus einem schäbigen Taschenkalender abgelesen hatte.
Schon nach dem ersten Freizeichen meldete sich der andere Teilnehmer mit einem gelangweilten »Yeah!«
»Hallo, Mr. Thomason!« flüsterte der Mann mit der Windjacke in die Sprechmuschel. »Hören Sie mich?«
»Wer ist da?« fragte der Angerufene barsch zurück.
»Kumble, Harry Kumble!«
»Ach, Kumble. Bist du auf dem Mond? Du bist so leise!«
»Nein, Mr. Thomason, ich bin hier am Roosevelt Drive in einer Zelle…«
»Was, verdammt? In einer Zelle?« reagierte der andere Teilnehmer.
»In einer Telefonzelle«, flüsterte Kumble. »Mr. Thomason…«
»Du weißt, wo ich wohne!« dröhnte Thomasons Stimme durch die Leitung. »Warum kommst du nicht zu mir und bringst mir die Zinsen, die schon vorgestern fällig wären? Komm mir heute nicht mit verdammten Ausreden, daß du das Geld nicht zusammenhast! Wenn du nicht sofort die Zinsen bezahlst, schicke ich dir auf der Stelle ein paar Männer, die dir deine Wohnung in Trümmer schlagen. Verstanden?«
»Mr. Thomason«, flüsterte Kumble erschrocken.
Harry Kumble wußte sehr gut, daß Thomason nicht übertrieben hatte. Thomason war Gangster. Zu seinen Geschäften gehörten auch illegale Kreditgewährungen. Gegen Wucherzinsen. Und damit keiner seiner Kunden auf die Idee kam, die unerhörten Zinsen nicht zahlen zu wollen, unterhielt Thomason ein Rollkommando. Für seine Schuldner gab es nur drei Möglichkeiten. Zahlen oder völlig vernichtet zu werden. Oder aber die Schuld bei Thomason abzuarbeiten — als Gangster. »Was ist?« fragte Thomason.
»Mr. Thomason, ich will… ich kann…«
»Was, verdammt, du Wurm?«
»Ich kann Ihnen einen Tip geben, einen guten Tip!« Kumble stockte wieder.
»Welchen Tip? Schnell, sonst lege ich auf!«
»Wenn ich Ihnen den Tip gebe, ich meine…« Kumble war kein besonders gewandter Mensch. Er wußte, daß Thomason ihm in jeder Beziehung haushoch überlegen war. Und jetzt wollte er ihm eine Bedingung stellen. Deshalb sprach er nur stockend. Ihm fehlte die Sicherheit.
Aber Thomason fehlte die Geduld. »Willst du mir etwa Bedingungen stellen, du schmutzige Laus! Was bildest du dir überhaupt ein? Du hast eine letzte Frist von einer Stunde! Halte sie ein! Andernfalls…« Thomason vollendete seinen Satz nicht mehr. Er hängte einfach ein. Harry Kumble starrte entgeistert auf den stummen Hörer.
***
Ich schaute meinen Freund und Kollegen Phil verdutzt an. Er benahm sich wie ein Lausebengel, der seiner Mutter einen Streich spielen will: er malte mit Kugelschreiber und Filzstift an der Wand in unserem gemeinsamen Büro im New Yorker FBI-Distriktgebäude herum.
»Spinnst du?« fragte ich ihn vorsichtig. »Sicherung durchgebrannt? Du solltest mal zum Psychiater gehen!«
Phil ließ sich nicht stören. Er pfiff irgendeinen Schlager und — kritzelte die Wände voll.
»Dir gefällt die Wand nicht?« versuchte ich zu erfahren, was Phil dazu trieb.
»Doch«, gab Phil zu, »wenn auch nicht besonders. Aber irgendeinem hohen Tier gefällt sie überhaupt nicht mehr.«
»Wem?« Die Sache kam mir immer merkwürdiger vor.
»Mr. High vielleicht«, sagte Phil. »Oder Mr. Hoover, unserem obersten Chef. Ich weiß es selbst nicht. Jedenfalls habe ich heute einmal Gelegenheit, endlich das zu tun, was ich als little Boy schon immer tun wollte und nie durfte: Wände vollschmieren nach Herzenslust.«
»Zum Teufel«, sagte ich und stand mit zwei Schritten unmittelbar vor ihm, »was ist denn mit dir los? Bist du in ein Whiskyfaß gefallen, schadet dir die zu früh hereingebrochene Hitzewelle, oder…«
»Ich bin ganz normal«, behauptete Phil. »Vorhin war unser Hausmeister hier, mit einem Handwerker. Wir müssen uns morgen und vielleicht auch noch übermorgen in einem Vernehmungszimmer einnisten. Unser Office wird renoviert. Bis heute abend um sechs müssen wir hier verschwunden sein. Dann kommen die Möbel ’raus, und die alten Tapeten werden abgewaschen.«
»Du heiliger Strohsack!« entsetzte ich mich. »Was wird mit den ganzen Akten?«
»Kommt alles ’raus«, erklärte
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