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Ein Mord den jeder begeht

Ein Mord den jeder begeht

Titel: Ein Mord den jeder begeht Kostenlos Bücher Online Lesen
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beider Stimmen. Er nahm sein Köfferchen wieder auf und ging langsam die Treppen hinab. Diese Sache war vollkommen in Ordnung. Als Exzeß sozusagen erschien ihm dabei nur, daß Marianne es nicht für nötig befunden hatte, den Kettenriegel vorzulegen. Nun, das weggeschickte Mädchen hatte wohl keinesfalls einen Schlüssel erhalten, und wer war denn auch sonst zu erwarten gewesen?
    Überhaupt war alles in Ordnung. Auch war es lächerlich gewesen, während der Reise einmal so zwischendurch vorauszudenken, wie man denn Marianne »gegenübertreten« sollte, mit dem Wissen, das man nun besaß. Als er, bei der Ecke der Weißenbornstraße, gegenüber jener Birke hinter dem niederen Parkgitter (jetzt stand sie grell grün, wie gefärbtes Papier), die Hans-Hayde-Straße überqueren wollte, begegnete ihm unversehens ein alter Bekannter und fuhr ihn ebenso unversehens um ein Haar nieder, ein großer gelber Tankwagen. Conrads Ohr war für die Hupe verschlossen gewesen, es ging diesmal wirklich um ein Haar und um einen Satz, mit dem Castiletz sich nach rückwärts schnellen konnte. Ein Bursche, der neben dem Fahrer saß, wandte sich um und rief Conrad einige nicht so ganz unberechtigte Grobheiten zu. Auch in der Hans-Hayde-Straße lag die Sonne, völlig schräg, wie gestreckt die ganze Länge der Zeile entlang. Über die Treppe kam die Schubert herunter. Sie grüßte, rasch vorbeiwischend, nur mit einem seltsamen kleinen Quietschlaut, der wirklich klang wie aus dem letzten Loch gepfiffen. Sie hob ein Taschentuch, ihr Gesicht sah aus wie eine kleine geballte, nasse Faust.
    »Herr von Hohenlocher«, sagte Castiletz, als sich die Türe öffnete, »darf ich mal bei Ihnen übernachten?«
    »Ja freilich«, erwiderte der Jagdhund unbewegt und warf einen Blick auf Conrads Köfferchen. »Sogar in Ihrem ehemaligen Standquartiere. Castrum Conradi ist derzeit ohne Besatzung. Bei Ihnen wohl niemand zu Hause?«
    »Das werde ich Ihnen gleich erklären«, sagte Castiletz ruhig, im Eintreten. »Jedoch, um dieser Sache jetzt näherzutreten, bitte ich Sie um ein Glas Gin.«
    »Fiat libatio!« rief von Hohenlocher; Flaschen, Soda, Angostura wanderten hervor, wieder saß man auf dem alten Platze; aber der Regierungsrat faulte diesmal nicht auf der Ottomane. Seine Haltung war im Gegenteile höchst gesammelt und aufmerksam, ja, gespannt. Sie wurde es bald noch mehr.
    Conrad sagte ihm alles. Während er sprach, sank der Tag draußen, erlosch das Sonnengold in den Fenstern, schaltete der Hausherr die bunte Lampe ein: es war, als liefe die Zeit zurück und schlösse sich wieder zum Kreis, so wie sich der Bericht nun zum Kreise schloß, als sei man gestern angekommen, im Bahnhofshotel eingeschlafen (»ja – Leben! das ist’s!« flüsternd) und als säße man nun hier, wegen einer Wohnung, und würde zugleich belehrt: aber in diesem Punkte gerade bestand jetzt ein tief einschneidender Unterschied. Immer, bei ganzer währender Erzählung, fühlt’ es Conrad, daß er hier auf gleicher Ebene sprach, von gleich zu gleich, daß des Herrn von Hohenlocher autoritative Mission mit dieser Stunde erloschen war. Nun hätten sie nur mehr Freunde werden können.
    Als Castiletz geendet hatte, erhob sich der Jagdhund, schritt bis in die Mitte des großen Raumes, stand dort eine Weile schweigend (wobei sein Gesicht sehr ernst und schön aussah, aber wahrscheinlich machte das nur die vorteilhafte Beleuchtung), und endlich gab er das Folgende bekannt:
    »Herr Castiletz«, sagte er scharf, »meine ganze Stellungnahme in dieser Sache hängt zunächst davon ab, was Sie antworten werden, wenn ich jetzt, statt Ihnen meine Anteilnahme und mein tiefstes Mitleid zum Ausdruck zu bringen, Sie ganz eindeutig und mit außerordentlicher Festigkeit der Überzeugung herzlich beglückwünsche.«
    »Ich antworte«, sagte Conrad, »erstens, daß mir dies selbstverständlich erscheint, zweitens, daß ich Ihnen von ganzem Herzen danke.«
    »Dann haben Sie den Kranz errungen«, sagte Herr von Hohenlocher. (Bei diesen Worten erschrak Conrad ein wenig.) »Dann sind Sie mit ungewöhnlichem Erfolge den längsten Weg gegangen, der alle Übel heilt. Daß dieser Weg bei Ihnen selbst enden mußte, ist ewiges Gesetz, dem ständig auszuweichen übrigens einen bedeutenden Teil der Anstrengungen unseres Lebens bildet. Wer diesen Weg bis zum Ende und Kranze geht, gelangt in den Besitz eines Wissens, das nur einer verschwindend kleinen Zahl zuteil wird: nämlich zu wissen, wer eigentlich man selber sei.

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