Ein Mord den jeder begeht
Erster Teil
1
Jeder bekommt seine Kindheit über den Kopf gestülpt wie einen Eimer. Später erst zeigt sich, was darin war. Aber ein ganzes Leben lang rinnt das an uns herunter, da mag einer die Kleider oder auch Kostüme wechseln wie er will.
Der Mann, dessen Leben hier erzählt werden soll – sein Fall hat innerhalb der deutschen Grenzen und noch darüber hinaus einige Neugier erregt, als hintennach die Sachen genauer bekannt wurden – dürfte fast einen Beleg dafür abgeben, daß man des bewußten Eimers Inhalt nimmer abzuwaschen vermag.
Als Kind rief man ihn »Kokosch«, seiner eigenen ersten und stammelnden Aussprache des Namens Conrad folgend. Was er schon als Knabe »sein Reich« nannte – und später, in gehobener und angelesener Ausdrucksweise, »mein Knabenreich« oder »mein Kinderland« – das war der eine auslaufende Flügel einer Großstadt, welcher seine Häusermasse jenseits eines breiten und von Schiffen befahrenen Kanales unter dem Dunst bis an den Himmelsrand hinstreute. In der Tat war diese Häusermasse nicht in allen ihren Teilen zu geschlossenen Zeilen und Gassen gestockt, sondern vielfach aufgespalten, von unverbauten Feldern und Wiesenplänen unterbrochen, auf denen alte Bäume des Auwalds, Gebüsch und Jungholz standen. Manche Straße hatte nur auf der einen Seite Häuser, die schon in einer geschlossenen Reihe hinliefen, die andere Seite war jedoch leer. Hier sah man über Schotterhaufen, Holzstapel und das Geländer, welches sich rückwärts vor der absinkenden Böschung des Kanals hinzog, über diesen selbst weit hinüber zu der vielgeteilten Stadtmasse jenseits des Wassers, und auch entlang, wo dieses langsam und glitzernd zwischen seinen zurückgelehnten Uferböschungen sich in einem Bogen nach links wandte. Dort stand der graugrüne Schaum der Baumkronen und dort traten die Wiesen heran. In der Ferne gab es Fabrikschornsteine, gereiht wie Pfeile in einem Köcher, und daneben noch die breiten und stumpfen Erhebungen der Gasometer, hinter deren von Gitterwerk überhöhtem metallischen Glänzen winters der Nebel, sommers das aufgekrauste Gewölk eines dampfigen Himmelsrandes lag.
In dem letzten Hause jener einseitigen Häuserzeile am Kanal wohnten Conrads Eltern im dritten Stockwerk, das sie allein als recht geräumige Behausung innehatten. Der Vater, Lorenz Castiletz, stellte zwar keinen reichen Mann vor, immerhin aber das, was man vermöglich zu nennen pflegt. Sein Arbeitsgebiet war der Tuchhandel, und er hatte zudem seit langem die Vertretung zweier holländischer Firmen, um welche man ihn nicht wenig beneidete, denn sie allein machten eine starke Stellung aus. Mit diesem Umstande und ferner damit, daß man unweit der Stadt eine an Grund und Boden, Haus und Hof, in ländlicher Weise begüterte Tante besaß, hing es zusammen, daß »Kokosch«, noch dazu als das einzige Kind, welches er war, auch während der Kriegszeit und der schlimmen ersten Jahre nach dieser, niemals nennenswerten oder gar seine Gesundheit bedrohenden Mangel litt. Jene Ereignisse gingen überhaupt am Hause Castiletz mehr auswärts vorüber. Der Vater, welcher sich auf eine merkwürdige Art – nämlich durch ein in längst vergangenen Jugendjahren allzu hingebungsvoll ausgeübtes Säbelfechten – einen Herzfehler zugezogen hatte, stand bei Kriegsanbruch nicht mehr im unmittelbar waffenpflichtigen Alter, und zudem wäre er aus dem erwähnten Grunde allein zum Felddienst untauglich gewesen. Zwischen Lorenz Castiletz und seinem Söhnchen klaffte ein Altersunterschied von siebenundvierzig Jahren.
Der Vater war ein großer und schöner Mann, mit langem, schwarzem Lockenhaar und einem kräftigen Schnurrbart, beides in anmutiger, ja beinahe koketter Weise von silbernen Fäden und Strähnen durchsetzt. Gutartig, freundlich und außerhalb seiner Geschäfte sehr zerstreut und unordentlich, konnte es jedoch bei ihm unversehens geschehen, daß er, von einem brutalen und wie nach innen gekehrtem Zorne plötzlich erfaßt, sozusagen schwarz wie Ebenholz wurde vor Wut und die unheimlichsten Beschimpfungen von sich gab. Die Wohnung verwandelte sich in solchen Fällen geradezu in einen Hohlraum des Schreckens, bis plötzlich der Vater bei irgendeiner Türe freundlich lächelnd ins Zimmer trat, bereit, sich bei jedermann zu entschuldigen, sei es bei der Mutter, die er küßte, sei es bei Kokosch, den er auf die Knie nahm. Aber das Erlebnis des plötzlich so tief verfinsterten Vaters wirkte bei dem Knaben nachhaltiger als die
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