Ein Tag, zwei Leben
Wellesley-Leben. Wenn sich dieses Leben in Wohlgefallen auflöste, so kurz vor dem Schulabschluss, was hätte ich dann noch? Nein. Das durfte ich nicht zulassen. Ich konnte es nicht riskieren, dass meine beiden Welten über den Haufen geworfen wurden.
Ich machte eine wegwerfende Handbewegung. » Ich bin absolut glücklich, über glücklich. Dex und ich werden für immer zusammen sein. Auf den richtigen Zeitpunkt für diesen Schritt zu warten, war essenziell. Wenn ich zu früh mit ihm ins Bett gehüpft wäre, könnten wir ja gar nicht in dem Wissen auf diese Zeit zurückblicken, wie sehr wir uns danach gesehnt hatten.«
Lucy war völlig verzückt. » Ooh, ihr zwei seid so süß. Daran habe ich gar nicht gedacht, aber es ist ja so wahr.« Sie nickte. » Ich hoffe, dass Noah und ich eines Tages wie ihr sein werden.«
Ich blinzelte, überrascht, dass es so einfach gewesen war. Dankbar griff ich jedoch den Themenwechsel auf. » Na ja, das wirst du nie herausfinden, wenn du nichts dafür tust. Heute Abend.«
» Wenn er mich zurückweist, muss ich ihn wenigstens nicht mehr dauernd in der Schule sehen«, jammerte sie, während wir durch den Flur zu unserer letzten Unterrichtsstunde des Tages gingen.
19 – Wellesley, Dienstag
Zu meiner Überraschung erwartete mich Lucas nach der Schule tatsächlich und fuhr mich, wie versprochen, direkt zur Werkstatt, damit ich mein Auto abholen konnte. Es war eines meiner Lieblingsbesitztümer. Es gab eine Sache, die Ryan, Lucas und ich gemeinsam hatten: die Liebe zu Autos. Ryan gefiel sich selbst über alles in seinem alten Porsche, Lucas liebte die Mechanik und ich liebte die Freiheit, die mir mein neuer silberner A1 verlieh.
Als wir in der Werkstatt ankamen, konnte ich meine Aufregung nicht verbergen. Ich hatte vor, den Wagen gründlich zu inspizieren, und war gespannt auf die neuen Felgen, die wir bestellt hatten. Doch schon als Frank, der Automechaniker, aus der Werkstatt kam, um uns zu begrüßen, wusste ich, dass es keine guten Nachrichten gab.
Frank war klein und dünn, seine drahtigen Haare waren mittlerweile vollkommen grau, ebenso wie der undurchdringliche Wald auf seiner Brust und seinen Armen. Er war schon bevor ich überhaupt geboren wurde unser Familienmechaniker gewesen, und ich malte mir aus, dass er das auch sein würde, bis er buchstäblich nicht mehr arbeiten konnte.
» Sorry, Süße. Wenn ich gewusst hätt’, dass du kommst, hätt’ ich angerufen und dir gesagt, du brauchst deine Zeit nicht verschwenden. Die Felgen sind noch nicht gekommen und die nächste Lieferung kommt erst Donnerstag.« Er zog einen Lappen heraus und wischte sich die ölverschmierten Hände ab.
Ich öffnete den Mund, um mich zu beschweren, doch Lucas schnitt mir das Wort ab.
» Kein Problem, Frank«, sagte er hinter mir. » Ich rufe dich in ein paar Tagen an und frage nach, wie es steht.«
» Das wird wohl das Beste sein, Lucas. Sorry für die Umstände.«
Frank streckte mir die Hand hin. Ich schüttelte sie und versuchte zu lächeln, aber ich fühlte mich leer. Und jetzt auch noch schmutzig.
Lucas und ich hatten uns auf dem Weg zur Werkstatt nicht unterhalten und die Fahrt zurück verlief beinahe ebenso schweigsam. Wir probierten es zwar beide ein paarmal, aber unsere Versuche waren wenig überzeugend. Das wenige, was ich sagte – etwa unser Dreißig-Wort-Gespräch über den Schulabschluss oder unser Weniger-als-zwanzig-Wort-Gespräch darüber, dass mich Miriam über die Ferien in die Hamptons eingeladen hatte –, schien ihn nur zu erzürnen. Aus irgendwelchen Gründen hatte Lucas beschlossen, dass ich ein verzogenes Gör war und er nicht, während er mich in seinem BMW herumchauffierte, den er benutzte, wenn er gerade nicht seine Ducati fuhr.
Ich wusste nicht, was sein Problem war, aber so war er schon, seit ich denken konnte. Ich hatte es immer auf Moms und Dads Scheidung zurückgeführt. Der Prozess war aus unserer Sicht relativ glatt verlaufen. Mom und Dad hatten sich daran gehalten, » die Kinder zu schützen«, und die meisten ihrer Streitereien hinter verschlossenen Türen ausgetragen. Ich weiß nicht, was das Fass letztendlich zum Überlaufen gebracht hatte, warum Dad seine Sachen gepackt hatte und gegangen war – aber ich hatte den Verdacht, dass es etwas mit der Bedienung in dem Restaurant zu tun gehabt hatte, in das er uns in den Monaten, bevor er auszog, dreimal pro Woche geschleppt hatte.
Als es dann so weit gewesen war, hatte Lucas beschlossen, mit ihm zu gehen.
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