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Ein weißes Land

Ein weißes Land

Titel: Ein weißes Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sherko Fatah
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Kopf nach allen Seiten. Ich wusste, dass er mir damit ein Zeichen gab.
    Du bist es, dachte ich, und ließ mich auf die Ellenbogen zurückfallen, ich wusste es die ganze Zeit und habe doch nicht daran geglaubt. Ich seufzte, streckte mich auf dem Dach aus und blickte in den klaren Himmel.

Die schönen Häuser 1

1.
    I ch erinnere mich, dass ich nicht wusste, was Bildung ist, bevor ich gebildeten Leuten begegnete. Und daran, dass die Stadt, das Bagdad meiner Kindheit, klein war. Der Wüstensand bedeckte die Vororte mit ihren engen Höfen und den verwahrlosten Gassen, die aussahen wie in eine Kruste geritzt. Doch es gab auch den Fluss, der alles zu sich zu ziehen schien: Die Händler, die hier ihre Frachtkähne entluden, die reichen Leute, die in seiner Nähe ihre Häuser bauten und Gärten anlegten. Auch die Ausländer zog der Fluss an. Hier errichteten die Briten ein Viertel wie Bataween mit breiten, geraden Straßen und drei weiten Parks wie in London, mit Elektrizität und echten Postadressen. Für mich aber gab es hier vor allem die Cafés, die ganz anders waren als alles, was ich kannte. Hier saßen nicht nur die Männer wie in den Teehäusern beim Tawla mit ihren Wasserpfeifen. Hier waren Frauen ohne Abbaja, in westlicher Kleidung, ebenso Gäste wie die Männer, mit denen sie plauderten und lachten. Sie tranken Limonade, rauchten und blickten auf den ruhigen Fluss hinaus. Jeder schien viel Zeit zu haben und klug zu sein. Denn diese Leute redeten unaufhörlich, sie diskutierten aufgebracht und lachten dann wieder zusammen. Oder sie spielten Billard an prächtigen Tischen, groß wie Kommoden und mit schönem, grünem Samt bespannt. Der einzige Zweck dieser Tische war das Spiel, ein Zeitvertreib.
    Immer wollte ich zu diesen Orten, zog es mich in die Nähe dieser Menschen. Ich war nicht der Einzige. Was hatten wir in der Schule gelernt? Geschichte? Das war weit entfernt. Geschichte wurde in Europa gemacht. Wir hier hatten nur das Glück, unter das Dach jenes gewaltigen Gebäudes des Empire geraten zu sein, errichtet von blassen Männern mit hellen Perücken. Die Geschichte, so sagte Ephraim, hatte uns nur gefunden und verschluckt. Die Briten, meine Lehrer und alle, die ich später traf, liebten das ganz Alte an diesem Land hier, Dinge, die wir längst vergessen hatten. Sie gruben steinerne Riesen aus, Krieger und Löwen, in denen sie selbst sich erkannten. Sie nannten es »unsere Kultur«.
    Doch in dem Augenblick, da sie die Dinge aus der Erde hoben, waren sie Teil ihrer Welt, des Himmels, den sie über uns aufgespannt hatten. Wir waren im Grunde nur Beduinen für sie, vergessliche Wanderer auf der Oberfläche einer mit Schätzen prall gefüllten Erde. Sie mussten kommen, um das Land zu erschaffen, in dem wir schon lange lebten. Sie gaben ihm eine Gestalt, einen Namen und einen König. Mit ihm begann für uns das britische Mandat im Irak. Das war 1921, im Jahr meiner Geburt.
    Der Gedanke ist seltsam. Noch nie habe ich mich, mein eigenes Leben, in Zusammenhang gebracht mit dieser »Geschichte«. Alles, was mir widerfahren ist, sah ich immer als persönliche Angelegenheit. Auch hatte ich nie jenen heftigen Nationalstolz empfunden, der bei anderen erwachte, die mit mir aufwuchsen. Und doch ist etwas davon auch in mich gedrungen und hat sich festgesetzt.
    Ich muss an meinen Vater denken. Ich sehe ihn vor mir, einen kleinen, kräftigen Mann mit hochfliegenden Gedanken. Auch für ihn waren die zwanziger und dreißiger Jahre gewiss eine Zeit des Umbruchs. Er arbeitete als Aufseher in einer Dattelpackerei, er schrie nicht nur und klatschte in die Hände, er benutzte auch einen Schlagstock.
    »Organisation«, sagte er immer, »ist das große Problem in diesem Land.« Nichts von dem, was sein Sohn in der Schule lernte, war für ihn von Belang. »Alles, was wir von den Fremden lernen können, ist Ordnung. Sie ist die Grundlage eines modernen Landes. Unsere Leute sind ungebildete Bauern, ohne eine Vorstellung von dem, was in der Welt vorgeht. Sie lernen nichts, dann stehen sie bereit für jede Art von Arbeit und das ist alles, woran sie denken. Wenn ich sie bestrafe, schauen sie zugleich kriecherisch und hasserfüllt zu mir auf. Ich weiß genau, was sie empfinden. Und so ist das ganze Land, kriecherisch und hasserfüllt.«
    Und wie um mich seine Unzufriedenheit fühlen zu lassen, nahm er mich mit an gewisse Orte. Das waren nicht die üblichen Familienausflüge, bei denen es vor allem darum ging, eine hübsche Stelle am Fluss zu

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