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Ein Winter mit Baudelaire

Ein Winter mit Baudelaire

Titel: Ein Winter mit Baudelaire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harold Cobert
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Obdachlosenheime. Der Autor der Reportage erinnert daran, dass die meisten nur von November bis Mai geöffnet sind. Anhand von konkreten Zahlen zeigt er auf, dass im Gegensatz zur vorherrschenden Meinung die Sterblichkeit unter den Obdachlosen im Sommer genauso hoch ist wie im Winter. Zu Beginn der warmen Jahreszeit haben diejenigen, die die Kälte überlebt haben, keine Abwehrkräfte mehr. Alkohol, Hitze, ungeeignete Kleidung und Dehydrierung tun dann ein Übriges, um den angegriffenen Organismus weiter zu schwächen.
    Im Anschluss an den Artikel macht ein Infokasten auf besondere Einrichtungen aufmerksam, die das ganze Jahr über geöffnet sind: das Dorf der Hoffnung , gegründet im Januar 2007, das aus etwa dreißig Bungalows für Obdachlose besteht, die schon in der Phase der Wiedereingliederung sind, und Le Fleuron . Gegründet 1999 vom Malteserorden und der Tierschutzorganisation 30 Millions d’Amis , ist dieser aufder Seine vor Anker liegende Kahn die erste und einzige Einrichtung, in der Obdachlose – hier »Passagiere« genannt – mitsamt ihren Hunden aufgenommen werden, denen eine kostenlose tierärztliche Untersuchung angeboten wird. Außerdem bietet Le Fleuron während der vier Wochen, in denen die »Passagiere« an Bord bleiben dürfen, Beratung zu allen Behördengängen, die der Wiedereingliederung dienen können. Der Umbau eines weiteren Kahns steht kurz vor der Fertigstellung. Dort wird man dreißig Personen, die bereits im Begriff sind, sich dauerhaft in die Gesellschaft wiedereinzugliedern, mehrere Monate lang eine Unterkunft bieten können. »Zehn Prozent der Menschen, die an Bord des Schiffes waren, finden entweder einen Ausbildungsplatz oder einen Job; eine hervorragende Bilanz, wenn man bedenkt, dass nur zwei Prozent derer, die auf der Straße gelandet sind, überhaupt die Voraussetzungen dafür haben, es jemals wieder zu schaffen«, schreibt der Journalist am Ende seines Artikels.
    Philippe schaut auf die Uhr: Es ist fast sieben. Er faltet die Zeitung zusammen und trinkt den letzten Schluck Kaffee, der schon kalt ist.
    »Wie viel schulde ich dir?«
    »Fünf!«
    Philippe nimmt seine Brieftasche und klappt die beiden Sichtfächer auf: In dem einen steckt sein Personalausweis, im anderen ein Foto seiner Tochter. Sein Blick verweilt für einen kurzen Moment auf dem lächelnden Gesicht von Claire, dann zahlt er und tritt hinaus in das geschäftige Treiben des Tages.

Intimität
    Mit seinem Anzug und dem Kulturbeutel in der Hand betritt er unauffällig die Büroräume der Firma für Wärmepumpen, für die er arbeitet. Er schleicht sich durch die Flure und schlüpft in die Herrentoilette.
    Prüfend starrt er sein Spiegelbild an, sieht die Schatten unter den Augen, die eingefallenen Wangen, die Falten. Seine Sorgen und die durchwachte Nacht stehen ihm ins Gesicht geschrieben, verstärkt durch das helle Neonlicht auf dem Weiß der Kacheln.
    Er zieht sich bis auf Unterhose und Socken aus, reibt sich mit kaltem Wasser durchs Haar, über Gesicht und Hals. Dann bespritzt er seinen Oberkörper und die Achseln mit Wasser, um schließlich, auf die Zehenspitzen gestellt, sein Glied im Becken zu waschen.
    Er nimmt einige Papiertücher, um sich damit abzureiben, aber sie sind zu dünn, sie zerreißen auf der nassen Haut und bilden Kügelchen, die sich zwischen den Körperhaaren verfangen. Missmutig schaut er sich um, schließlich stellt er sich vor den elektrischen Handtrockner, dreht die bewegliche Düse zu sich hin und setzt das Gerät in Gang.
    Während er sich noch im warmen Luftstrom die Glieder verrenkt, platzt Mahawa, eine der Frauen aus der Putzkolonne,mit ihrem Wägelchen herein. Beim Anblick des fremden, halb nackten Mannes zuckt sie zusammen und stößt einen leisen, überraschten Schrei aus. Philippe hebt den Kopf. Regungslos und verwirrt stehen die beiden voreinander und starren sich an, erst noch getrennt durch das beruhigende Getöse des Handtrockners. Als er verstummt, greift eine Stille um sich, die Philippe und die Frau endgültig miteinander konfrontiert.
    Mit einem verschämten, etwas ängstlichen Lächeln weicht Mahawa zurück. Philippe geht einen Schritt auf sie zu.
    »Nein, warten Sie!«
    Mahawa erstarrt.
    »Seien Sie unbesorgt«, sagt sie mit deutlich afrikanischem Akzent. »Ich habe Sie nicht gesehen …«
    »Es ist nicht so, wie Sie denken, absolut nicht … Ich … ich arbeite hier …«
    Hastig durchwühlt Philippe seine Hosentaschen, zieht die Brieftasche heraus und findet die

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