Eine Hand voll Asche
Ganze nannte sich jetzt Old City. Die nördliche Grenze der Old City war zwar grobschlächtig, aber deutlich gezogen: ein holpriger zweispuriger Bahnübergang kurz vor der White-Lily-Getreidemühle und dem Greyhound-Busdepot, ein weiterer Knoxviller Scheideweg für die sozialen Absteiger.
Roger bog links von der Central Avenue ab und fuhr von hinten an den Nationalfriedhof – einen ordentlich gemähten Veteranenfriedhof, dessen Hunderte von Gräbern durch exakte Reihen identischer Grabsteine markiert waren: Selbst im Tod präsentierten sich die Soldaten in einheitlicher Ausstattung und perfekter Formation. Direkt hinter dem Friedhof, nach der Überquerung weiterer Eisenbahngleise, bog Roger wieder von der Straße ab und holperte über einen breiten Versorgungsweg, der parallel zu den Schienen verlief. Links grenzten die Schienen an eine Reihe von Industriebauten, in denen ich Maschinenhallen vermutete. Rechts, auf meiner Seite also, war eine Wand aus Laub. Roger hielt an und führte mich auf einem breit ausgetretenen Pfad zwischen die Bäume. Das Waldstück war überraschend groß – es erstreckte sich rund fünfzig Meter am Ufer des First Creek. Auch hier hingen Hemden und Hosen zum Trocknen über Zweigen, auf kleinen Lichtungen lag Bettzeug, überall türmten sich Abfallhaufen und Kleidungsstücke. »Bis vor ein paar Tagen war das hier ein ziemlich großes Camp«, sagte Roger. »Wahrscheinlich waren zwei Dutzend Leute hier. Die Eisenbahn hatte am Rand der Bäume da drüben ziemlich große Kanalröhren gestapelt, und manche haben in den Röhren geschlafen. Die Eisenbahn hat dann die Polizei gerufen und sie gebeten, den ganzen Bereich zu räumen.«
»Wie machen die das? Kommt ein Haufen Polizisten her und verhaftet die Leute, oder fahren sie mit Lautsprecherwagen durch und bitten sie, sich zu entfernen, oder wie?«
»Ganz so grob geht es nicht zur Sache«, sagte er. »Die Polizei sagt den Sozialdiensten und den Sozialämtern, dass sie ein Camp schließen wird, und dann gehen die Sozialarbeiter raus und warnen die Leute, sagen ihnen, wenn sie ihre Sachen nicht verlieren möchten, sollten sie vorher zusammenpacken und sich aus dem Staub machen. Die Eisenbahn hat die Röhren schon woandershin geschafft, und die Stadt schickt wahrscheinlich in ein paar Tagen oder Wochen oder Monaten einen Trupp raus, um aufzuräumen. Inzwischen suchen sich die Leute eine andere Stelle zum Kampieren.«
»Das Hütchenspiel?«
»Das Hütchenspiel.«
Wir gingen zurück zum Honda und holperten über den Feldweg zurück in die Stadt. Vor uns konnte ich die Rückseite des Gebäudes der Heilsarmee sehen und die darüber schwebenden Betonsäulen und die Brücke der I-40. Wir hatten fast den Kreis geschlossen, obwohl wir immer noch abseits der Straße waren und uns hundert Meter westlich vom Broadway einem großen gekiesten Bereich unter der Interstate näherten. Unter der Brücke der I-40 über den Broadway hatte ich gestaunt, wie viele Menschen sich dort versammelt hatten; jetzt staunte ich über die geschäftige Szene, die sich hier vor mir entfaltete. Es war fast, als würde ich eine Treppe hinuntersteigen und mich in den unter Disneyland versteckten Servicetunneln wiederfinden – einem Bereich, von dem ich kaum gewusst hatte, dass er existierte, und in dem es doch wimmelte von Menschen und Aktivitäten.
Dutzende von Pkws und Pick-ups standen an einer Seite des gekiesten Bereichs unter der Brücke, der etwa die Größe eines Footballfelds hatte. In der Nähe der geparkten Wagen stand ein Container, so ein schweres Ding aus Wellblech, wie man sie auf Frachtschiffen sieht. Der gelbe Container trug die Aufschrift »Lost Sheep Ministry«. Wenn ich dem Programm einen Namen hätte geben müssen, hätte ich nicht das verlorene Schaf gewählt, sondern eher die Arbeitsbiene oder eine gut geölte Maschine, denn ich hatte noch nie eine solche Effizienz gesehen. Ein stetiger Strom von Arbeitern, hauptsächlich Teenager mit frischen Gesichtern und junge Erwachsene, beförderten Klappstühle und -tische aus dem Container und stellten sie so in Reihen auf, dass sie einem Pult oder einer Kanzel gegenüberstanden. Eine Reihe starker Scheinwerfer – wie sie nachts beim Autobahnbau benutzt werden – wurde eingeschaltet und vertrieb die Düsterkeit unter der Brücke. Während Roger und ich zuschauten, wurde aus dem Platz unter der rumpelnden Brücke ein improvisierter Versammlungssaal mit Dutzenden von Tischen und Hunderten von Stühlen. Mehrere
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