Eine Spur von Verrat

Reihe fielen sich Edith und Damaris um den Hals. Dann wandten sie sich gleichzeitig zu Miss Buchan um und umarmten auch sie. Im ersten Moment war sie zu verwundert, um überhaupt reagieren zu können, doch schließlich verbog sich ihr Mund zu einem breiten Lächeln, und dann gab sie die Umarmung mit der gleichen Herzlichkeit zurück.
    Der Richter wölbte kaum merklich die Brauen. Es war ein Fehlurteil. Sie hatte eindeutig einen Mord begangen – zwar in der Hitze des Augenblicks, aber Mord blieb Mord.
    An einem Geschworenen-Schuldspruch war jedoch nicht zu rütteln. Sie hatten ihn einhellig gefällt, und da standen sie nun, Mann neben Mann, und schauten ihn unerschütterlich an.
    »Ich danke Ihnen«, sagte er denn auch sehr, sehr leise. »Sie sind von Ihrer Pflicht entbunden.« Dann wandte er sich an Alexandra.
    »Alexandra Elizabeth Carlyon, eine Geschworenenriege von Gleichgesinnten hat Sie des Mordes für nicht schuldig, jedoch für schuldig des Totschlags befunden und mich gebeten, in Ihrem Fall Milde walten zu lassen. Es ist zwar ein Fehlurteil, aber eines, für das ich vollstes Verständnis aufbringen kann. Ich verurteile Sie hiermit zu sechs Monaten Haft und dem gesetzlich geforderten Verzicht auf Ihren gesamten Besitz und alle weltlichen Güter. Da der Großteil von General Carlyons Vermögen ohnehin Ihrem Sohn zufällt, dürfte das für Sie allerdings kaum von Bedeutung sein. Möge Gott Ihnen gnädig sein, und mögen Sie eines Tages Frieden finden.«
    Alexandra stand abgemagert und wie ausgepumpt vor der Anklagebank. Endlich flossen ihre Tränen über und rannen in süßer, abgrundtiefer Erleichterung ihre Wangen hinab.
    Auch Rathbones Augen drohten jeden Moment überzulaufen. Er brachte keinen Ton mehr heraus.
    Lovat-Smith stand auf und schüttelte ihm die Hand. Hinten im Saal rückte Monk näher an Hester heran.

Buch
    London zur Zeit Königin Viktorias: Hester Latterly, Krankenschwester mit kriminalistischer Passion, wird von ihrer Freundin Edith Sobell um Hilfe in einer sehr privaten, aber äußerst dringenden Angelegenheit gebeten. Es geht darum, eine allem Anschein nach Unschuldige vor dem Galgen zu retten: Am Abend zuvor ist Ediths Bruder, General Thaddeus Carlyon, bei einer Dinnerparty der adligen Familie auf tragische Weise ums Leben gekommen. Er stürzte über das Treppengeländer aus dem ersten Stock hinunter in die Halle und wurde von der Hellebarde einer dort aufgestellten alten Rüstung durchbohrt. Ein unglücklicher Unfall, wie es scheint. Da behauptet plötzlich Alexandra, die attraktive Ehefrau des Toten, ihren Mann ermordet zu haben – aus Eifersucht. Doch Hester und der ehemalige Police-Inspector William Monk glauben weder an das Schuldbekenntnis noch an das Motiv. Die aristokratische Familie, die nichts mehr fürchtet als einen Skandal, hat eine Mauer des Schweigens um den Fall errichtet. In fieberhaften Nachforschungen gelingt es Hester Latterly und William Monk, der furchtbaren Wahrheit, die in den dunklen Geheimnissen des Ermordeten begraben liegt, auf die Spur zu kommen – während der Tag der Urteilsverkündung immer näher rückt.

Autorin
    Die Engländerin Anne Perry, 1938 in London geboren, verbrachte einen Teil ihrer Jugend in Neuseeland und auf den Bahamas. Schon früh begann sie zu schreiben. Ihre historischen Kriminalromane zeichnen ein lebendiges Bild des spätviktorianischen England und begeistern mittlerweile ein Millionenpublikum. Anne Perry lebt und schreibt in Schottland.