Eine Spur von Verrat
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Hester Latterly stieg aus dem Hansom. Der jeweils für eine Fahrt mietbare Zweisitzer war eine nagelneue, ausgesprochen praktische Erfindung, durch die das Reisen wesentlich erschwinglicher wurde als mit den alten, riesigen Kutschen, die man für den ganzen Tag bezahlen mußte. Sie fischte das entsprechende Geldstück aus ihrer Börse, gab es dem Fahrer und marschierte dann mit flottem Schritt am Brunswick Place vorbei in Richtung Regent’s Park, wo sich voll aufgeblühte Narzissen in goldenen Streifen gegen den dunklen Erdboden abhoben. So sollte es auch sein. Man schrieb den einundzwanzigsten April; genau ein Monat war seit Frühlingsanfang 1857 ins Land gegangen.
Sie sah sich forschend nach der großen, ziemlich eckigen Gestalt ihrer Freundin Edith Sobell um, mit der sie hier verabredet war, konnte sie jedoch nirgends unter den umher schlendernden Paaren entdecken. Die weiten Reifröcke der Frauen schienen den feinen Schotter auf den Wegen fast zu streifen, ihre hocheleganten Begleiter hatten etwas leicht Großspuriges an sich. Der schwache Wind trug die Bläserklänge einer Kapelle durch die Luft, die irgendwo in der Ferne einen flotten Marsch spielte.
Hester hoffte, daß Edith sich nicht verspäten würde. Sie hatte um dieses Treffen gebeten und gemeint, ein Spaziergang unter freiem Himmel wäre wesentlich angenehmer, als in einem Kaffeehaus zu sitzen oder in einem Museum – beziehungsweise einer Galerie herumzulaufen, wo sie möglicherweise auf Bekannte stieß und das Gespräch mit Hester unterbrechen mußte, um höflichen Unsinn auszutauschen.
Edith konnte den lieben langen Tag mehr oder minder tun, wonach ihr der Sinn stand; laut ihren eigenen Worten hatte sie sogar mehr Zeit als genug. Hester indes war gezwungen, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Gegenwärtig arbeitete sie als Krankenschwester bei einem pensionierten Offizier, der gestürzt war und sich den Oberschenkelknochen gebrochen hatte. Im Krankenhaus, in dem sie nach der Rückkehr von der Krim ihre erste Stellung gefunden hatte, war ihr gekündigt worden, weil sie die Dinge selbst in die Hand genommen und einen Patienten in Abwesenheit des Arztes auf eigene Faust behandelt hatte. Seitdem war es ihr glücklicherweise immer wieder gelungen, eine Beschäftigung in Privathäusern zu finden. Lediglich ihren Erfahrungen in Skutari, wo sie bis vor knapp einem Jahr gemeinsam mit Florence Nightingale die Verwundeten betreut hatte, war zu verdanken, daß sie überhaupt weiterhin arbeiten konnte.
Ihr momentaner Arbeitgeber, ein gewisser Major Tiplady, erholte sich gut und hatte ihr bereitwillig den Nachmittag frei gegeben. Doch trotz des herrlichen Wetters paßte es ihr ganz und gar nicht, ihn im Regent’s Park in endloser Warterei auf eine Bekannte zu verbringen, die nicht kam. Während des Krieges hatte sie so viel Inkompetenz und Verwirrung erlebt und so viel sinnloses Sterben gesehen, das hätte verhindert werden können, wären Stolz und Ineffizienz einmal beiseite gelegt worden. Deshalb konnte sie nur noch wenig Geduld aufbringen, wenn sie derartige Fehler irgendwo zu erkennen glaubte, und reagierte zum Teil recht hitzig darauf. Ihr Verstand arbeitete schnell, ihre Interessen waren intellektueller geartet, als bei einer Frau gemeinhin gefragt war, ihre Ansichten ob nun richtig oder falsch – wurden mit zuviel Überzeugung vertreten. Edith würde sich einen wirklich guten Grund einfallen lassen müssen, um ihre Verspätung zu erklären.
Hester wartete eine weitere Viertelstunde, während der sie rastlos zwischen den Narzissenbeeten auf und ab lief und zunehmend gereizter und ungeduldiger wurde. Was für ein rücksichtloses Benehmen, zumal der Treffpunkt extra zu Ediths Bequemlichkeit ausgesucht worden war; sie wohnte in Clarence Gardens, kaum mehr als einen halben Kilometer entfernt. Hesters Erbitterung stand womöglich in keinerlei Verhältnis zu dem tatsächlichen Affront. Obwohl sie sich dessen bewußt war, konnte sie weder verhindern, daß ihr Unmut immer größer wurde, noch daß sich ihre behandschuhten Hände zu Fäusten ballten oder ihr Schritt sich beschleunigte und ihre Absätze grimmig über den Boden klapperten.
Sie wollte die Verabredung gerade endgültig vergessen, als sie Ediths linkische, auf seltsame Art ansprechende Gestalt erblickte. Zum Zeichen der Trauer um ihren verstorbenen Mann trug sie nach wie vor überwiegend Schwarz, obwohl er bereits seit fast zwei Jahren tot war. Sie hastete mit bedenklich wehenden Röcken über
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