Einfach Freunde
keinem vorwerfen.
Ich habe mit Monsieur Pozzo nie über meine Vergangenheit gesprochen. Er versuchte mich, ganz vorsichtig, zum Sprechen zu bringen. Ich fing sofort an, Witze zu reiÃen, und er verstand, dass ich keinen Einblick in mein Inneres geben wollte, nicht ihm, nicht mir selbst, und drängte nicht weiter. Aber manchmal schubste er mich vorsichtig an.
»Geh doch mal deine Familie besuchen.«
»Geh auf die Menschen zu, die dich ernährt haben.«
»Warum fährst du nicht mal in deine Heimat?«
Und als Letztes:
»Diesen Vorschlag, ein Buch zu schreiben, nimm ihn an. Es ist die Gelegenheit, dir über einiges klarzuwerden. Es ist interessant, du wirst sehen!«
Er wusste, wovon er sprach. Vor seinem Unfall hatte er ständig auf der Ãberholspur gelebt, ohne jemals zurückzublicken. Als er dann von einem Tag auf den anderen gestoppt wurde und sich achtzehn Monate lang in einem Reha-Zentrum behandeln lassen musste, umgeben von lauter genauso unglücklichen â und manchmal noch jüngeren â Frauen und Männern, da hat er Bilanz gezogen. Er hat entdeckt, wer er war, wer er in seinem Innersten war, und hat gelernt, die Augen für den Anderen â mit groÃem A, wie er sagt â zu öffnen, wofür er davor nie die Zeit gehabt hatte.
Philippe Pozzo erkannte, dass mein Schweigen und meine Blödeleien bedeuteten, dass ich mich weigerte, den Fuà vom Gaspedal zu nehmen. Doch er hörte nicht auf, mich zu ermutigen.
Erst als Dinge passierten, die ich nicht mehr unter Kontrolle hatte, fing ich an, auf seinen Rat zu hören.
Und für den Anfang bin ich in das Land meiner Geburt zurückgekehrt und habe meine Familie besucht.
40
»Ich bin der Putenkönig. Steig doch mit Hähnchen ein! Im Geflügelreich ist noch Platz für dich.«
Abdel Moulas Vorschlag war Gold wert. Er war bereit, sein Revier mit mir zu teilen. Aber das konnte ich nicht annehmen. Ob Huhn oder Pute, das ist für mich gehupft wie gerupft, und ich sah mich nun mal nicht als Nummer zwei. Ich bin die Nummer eins oder gar nichts. Bis zu diesem Zeitpunkt war ich eher gar nichts, und mir war klar, dass sich daran etwas ändern musste. Aber ich konnte mir nicht vorstellen, einem Freund, der mich so groÃherzig aufgenommen hatte, den Platz streitig zu machen. Und ich konnte mir mich schlecht in Marokko vorstellen: Ich war noch immer davon überzeugt, dass meine Herkunft schuld daran war, dass aus dem geplanten Vergnügungspark in Saïdia nichts wurde. Algerier und Marokkaner können sich nicht besonders leiden. Die Algerier werfen den Marokkanern vor, sie führen sich aufgrund ihrer Kultur und ihres Reichtums wie die Fürsten des Maghreb auf. Und die Marokkaner halten die Algerier für feige, faul und ungehobelt. Die marokkanische Verwaltung hat mir alle möglichen Hindernisse in den Weg gelegt, als ich Amal heiraten wollte. Ich musste sie mit einem Touristenvisum nach Frankreich holen, um sie den Klauen ihres Landes zu entreiÃen. Marokko wollte Amal behalten, aber mich wollten sie nicht.
Ich habe bald verstanden, dass in Algerien alles einfacher wäre und dass ich dort wenigstens niemanden ausboten würde. Abdel Moula bot mir an, mich in die Geflügelzucht einzuweisen. Vom Bau der Gebäude bis zur Wahl der Körner, er hat mir alles beigebracht. Monsieur Pozzo hat den Bankier gespielt. Einen sehr speziellen Bankier, der nicht nachrechnet. Und so machte ich mich auf in mein Land, um für mein Vorhaben den passenden Ort zu finden.
Seit über dreiÃig Jahren hatte ich keinen Fuà mehr nach Algerien gesetzt. Seine Düfte, Farben und Geräusche hatte ich alle vergessen. Und als ich sie wiederentdeckte, lieà es mich kalt. Es kam mir vor, als hätte ich sie nie gekannt. Es war eine Begegnung, kein Wiedersehen, und ein freudiges schon gar nicht.
Pragmatisch, wie ich bin, blieb ich einem meiner liebsten Mottos treu: Mach was draus . Ich sagte mir, dass man in Frankreich nichts Neues mehr aufziehen kann, dass die Bürokratie sehr kompliziert ist, dass die Banken kein Geld leihen (schon gar nicht jungen Arabern mit einem Vorstrafenregister), dass die Abgaben viel zu hoch sind, selbst für Existenzgründer â¦
Mach was draus, Abdel, mach was draus. Du hast noch immer einen algerischen Pass, dein Land, das du nicht kennst, empfängt dich mit offenen Armen, es befreit dich fünfzehn Jahre lang von sämtlichen Abgaben und
Weitere Kostenlose Bücher