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Einstein überquert Die Elbe Bei Hamburg: Erzählungen

Einstein überquert Die Elbe Bei Hamburg: Erzählungen

Titel: Einstein überquert Die Elbe Bei Hamburg: Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siegfried Lenz
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flüstert Hebbi. Sie streift seine Hand von ihrem Ärmel, lehnt sich an die Wand, versucht ihren Atem zu beruhigen, und mit einer gleichzeitigen Geste der Weigerung sagt sie: Schluß jetzt, Hebbi; ich mach' nicht mehr mit. Du leidest an Hirngespinsten.
      Aber er ist es, Karen, es ist Vater. Du weißt, daß er tot ist, seit elf Jahren. Seine Leiche - man hat sie nie gefunden nach dem Unglück damals. Aber warum läuft er weg vor uns? Fragen wir ihn, sagt Hebbi bestimmt und zieht sie in den dritten Stock hinauf, wo er den glimmenden Schalter eines Minutenlichts drückt. Er liest die Namensschilder, halblaut, er horcht an den Türen, und dann winkt er seine Schwester heran: Hier, Karen, dieser P. Ballhausen, der könnte es sein; in den anderen Wohnungen sind Kinderstimmen zu hören. Drück mal die Klingel. Drück du, sagt Karen.
      Die Klingel scheint sich verklemmt zu haben, das Schrillen dauert und dauert, erst ein neuer Druck unterbricht es. Beim Geräusch der sich nähernden Schritte schiebt sich Karen unwillkürlich hinter ihren Bruder. Eine Kette wird entfernt, langsam wird die Tür aufgezogen. Guten Tag, Vater, sagt Hebbi. Der kleine Mann mit den dunklen, träumerischen Augen sieht sie freundlich und verständnislos an. Er steht in offener Jacke vor ihnen, Hausschuhe an den Füßen, in einer Hand eine Brotsäge. Wir sind dir gefolgt, Vater, Karen und ich. Der Mann hebt bekümmert die Schultern, er sagt lächelnd: Es tut mir leid, aber ich muß Ihnen sagen, es ist ein Mißverständnis. Bitte, mach uns doch nichts vor, Vater, sagt Hebbi, ich habe eben noch dein Photo in der Hand gehabt. Laß uns reinkommen, zumindest. Der Mann schüttelt jetzt in amüsierter Überraschung den Kopf. Was einem so passieren kann, sagt er, und dann: Bitte, von mir aus kommen Sie herein.
      Sie betreten die Wohnung, vorbei an einem Stapel leerer Vogelbauer, fabrikneu; auf dem Küchentisch liegt ein angeschnittenes Brot, im sparsam möblierten Wohnzimmer liegen Packen von Tierzeitschriften herum. Wir haben dich entdeckt, Vater, zufällig, als du dem kleinen Mädchen die Blumen für Mutter gabst... wir sind dir gefolgt... warum hörst du nicht auf, Versteck zu spielen? Der kleine Mann bedenkt sich, entschuldigt sich für die Brotsäge in seiner Hand, er sagt lächelnd: Das wäre schon eine Überraschung, auf einmal zwei erwachsene Kinder zu haben, doch ich muß Sie enttäuschen. Mein Name steht auf dem Türschild, mir gehört eine zoologische Handlung, jeder hier kennt mich, seit vielen Jahren, Leider kann ich nicht das Ziel ihrer Suche sein. Seit wie vielen Jahren wohnen Sie hier, fragt Hebbi, und der Mann, die Achsel zuckend: Zu lange schon.
      Die Geschwister tauschen einen Blick, Hebbi erkennt Karens ungeduldige Aufforderung, die Wohnung zu verlassen, sie geht bereits auf den Flur hinaus. Entschuldigen Sie, sagt Hebbi kleinlaut und immer noch nicht überzeugt, vermutlich haben wir Sie verwechselt. Er geht auf den Flur hinaus, der kleine Mann folgt ihnen, begleitet sie zur Tür. Zum Abschied drehen sich die Geschwister gleichzeitig um, etwas zu abrupt, denn Karen stößt gegen den Turm der leeren Vogelbauer, die obersten Käfige stürzen herab, von einem wird sie am Jochbein getroffen. Beide entschuldigen sich, doch der Mann wertet das Mißgeschick ab, ist doch nichts passiert, sagt er, bis er die kleine Blutspur in Karens Gesicht entdeckt. Er besteht darauf, ihr ein Pflaster aufzukleben, ihr es zumindest für alle Fälle mitzugeben, und er geht ihnen voraus in die Küche, wo er aus dem Küchenschrank eine Zigarrenkiste heraushebt, die sein Verbandzeug enthält. Während er für Karen ein Pflaster heraussucht, stellt Hebbi eine gerahmte Photographie auf, die offenbar umgekippt ist. Es ist eine ältere Photographie. Sie zeigt seine Mutter.
      Karen, ruft Hebbi, sieh her, sieh dir das an. Karen drückt das Pflaster fest und wendet sich ihrem Bruder zu. Das ist doch Mutter? Ja, sagt Hebbi, das ist ein Bild von Mutter - und zu dem kleinen Mann: Das ist nun kein Mißverständnis, dies Bild - es ist ein Photo unserer Mutter. - Tatsächlich, fragt der Mann, und dann, nach einem Augenblick der Unsicherheit: Es gehört meinem Mitbewohner, er hat das Photo aufgestellt. Wie heißt er, fragte Hebbi, und der Mann, überlegend: Oh, wir haben den gleichen Vornamen, wir heißen beide Paul, sein Nachname ist Zech. Dürfen wir ihn sprechen? Aber sicher, aber gewiß doch, er wird etwa in zwei Stunden zu Hause sein, sagt der Mann. Karen nimmt

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