Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Einstein überquert Die Elbe Bei Hamburg: Erzählungen

Einstein überquert Die Elbe Bei Hamburg: Erzählungen

Titel: Einstein überquert Die Elbe Bei Hamburg: Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siegfried Lenz
Vom Netzwerk:
Wirt uns eine neue Lage brachte, fragte Gregor ihn: Die vielen Wimpel und Pokale dort, wofür haben Sie die bekommen? Angler, sagte der Wirt, ich war mehrmals Angler-König. Für den schwersten Fisch; für den wertvollsten Fisch; für die größte Kilobeute - für alles gibt's Preise. Auch für Angler-Latein, fragte Gregor, worauf der Wirt nur abwinkte und zur Theke zurückkehrte. Da beide nun mich ansahen, auffordernd und gespannt, nahm ich mir noch mal das Paar bei den Spielautomaten vor, fragte es stumm ab, deutete ihre Haltung, ließ die Achtlosigkeit sprechen, die sie für einander zeigten, und gerade dies: die Achtlosigkeit und eine plötzlich wahrgenommene physiognomische Ähnlichkeit legten mir eine andere Annahme nahe: die beiden mußten Geschwister sein. Na, fragte Gregor, was meinst du ? Geschwister, sagte ich, für mich sind die beiden Geschwister, anders kann ich sie nicht sehen.
      Ich spürte sogleich, wie diese Feststellung mich zu einer Überprüfung der Beziehungen zwang, die das Paar in der Ecke erkennen ließ. Die Schmerzlichkeit im Ausdruck der Frau: konnte sie nicht das Ergebnis einer Entdeckung sein, die sie zu letzter Hilflosigkeit verurteilt hatte? Und die sogenannte Achtlosigkeit des Burschen: verbarg sich hinter ihr vielleicht ein Wunsch nach Vergessen, und hinter seiner kalten Spielwut das Bedürfnis, sich ablenken zu müssen von dem, was er gemeinsam mit der Schwester entdeckt hatte? Andere Fragen ließen andere Möglichkeiten zu, und dann fragte ich nach einem Ort, wo die Geschichte ihren Ausgang nehmen könnte, und nach einem Anlaß, der das gemeinsame Auftreten der Geschwister rechtfertigte. Nun, fragte Gregor, wie kamen deine Geschwister hierher? Nach welcher Vorgeschichte?
      Also hört zu, sagte ich, denkt euch eine saubere, beengte Witwenwohnung, wir lassen es Nachmittag sein, man sitzt bei einer Kaffeetafel, die Kuchenlasten sind geplündert. Auf dem resedagrünen Sofa sitzt die gehbehinderte Mutter, auf zwei Stühlen sitzen sich Karen und Herbert, genannt Hebbi, gegenüber, die zum fünfundsechzigsten Geburtstag der Mutter erschienen sind. Mechanisch lädt die Mutter dazu ein, noch ein Stück Kuchen zu essen, beide verzichten seufzend, wechseln einen belustigten Blick, als die Mutter sich noch ein Stück Torte nimmt und mit grüblerischem Behagen zu kauen beginnt. Die Blumen, sagt Karen, wieviel Blumen du bekommen hast, Mama. Leider reichen die Vasen nicht, sagt die Mutter, zum nächsten Geburtstag könntet ihr mir einige Vasen schenken. Es klingelt an der Wohnungstür, Hebbi steht auf, um zu öffnen, doch die Mutter ruft ihn zurück, fröhlich zuerst, dann dringend; obwohl sie Mühe hat, zu gehen, besteht sie darauf, selbst zur Tür zu gehen. Heute bin ich an allem schuld, sagt sie mit gespielter Neugierde und deutet eine Erwartung an, die sie sich von keinem verkürzen lassen möchte. Sie schlurrt am Tisch vorbei auf den Flur, die Geschwister zwinkern sich zu, lauschen, wie draußen die Kette entfernt, die Wohnungstür geöffnet wird. Man hört explosionsartige Glückwünsche zum fünfundsechzigsten Geburtstag, dann den sanften Uberredungsversuch der Mutter, hereinzukommen, ein Stück Kuchen zu essen, schließlich eine vergnügte Weigerung: Später vielleicht, Frau Krogmann, wenn Sie Ihren Besuch überstanden haben. Die Mutter kehrt mit einem Blumenstrauß zurück, und Karen glaubt eine verborgene Enttäuschung herauszuhören, als ihre Mutter sagt: Nur eine Nachbarin, Frau UnertI - sie ist Empfangsdame, wenn ihr euch darunter etwas vorstellen könnt.
      Karen stellt die Blumen in einen Plastikeimer, steckt die
    Glückwunschkarte zwischen die Blüten, während Hebbi sich
    eine Zigarette ansteckt und genüßlich am Büfett entlangstreift, das beladen ist mit Mörsern, Photographien, staubfangenden Immortellen, einer massiven Modell-Lokomotive auf Marmorplatte, ferner mit Brieföffnern, Handspiegeln und einer nie benutzten silberbeschlagenen Bürste. Er schiebt die Immortellen zur Seite, angelt sich die größte Photographie, die in einem muschelbesetzten Rahmen steckt, betrachtet sie eine Weile mit wohlwollender Skepsis: diesen kleinen agilen Mann mit dunklen, träumerischen Augen, der sich die Uniformmütze der Bahnbediensteten so keß in die Stirn gezogen hat. Da haben wir ja unser kleines Genie, sagt Hebbi, schade, daß er dies alles nicht miterleben kann. Sprich nicht so, sagt die alte Frau, sprich nicht so von deinem Vater. War er denn kein Genie, fragt Hebbi mit

Weitere Kostenlose Bücher