Eisige Schatten
weiß, dass sie im Koma liegt, Richter. Ich weiß nicht, was dieses Koma ausgelöst hat. Ich weiß nicht, wie lange es dauern wird. Sie könnte auf natürliche Weise genesen.« Rhodes fühlte sich sichtbar hilflos. »Es tut mir leid. Aber es gibt nichts, was wir tun können.« Er blickte von einem Mann zum anderen, seufzte dann und verließ das Zimmer.
»Sie wird nicht auf natürliche Weise genesen«, sagte Bishop.
»Sie waren ihre Rettungsleine.« Bens Stimme war schroff. »Warum haben Sie sie losgelassen?«
»Wenn ich sie losgelassen hätte, wäre sie tot.« Im Gegensatz zu Bens Stimme blieb Bishops Ton ruhig, sogar milde.
Ben berührte zärtlich Cassies Wange, den Blick auf ihr Gesicht gerichtet wie in den vielen langen Stunden der vergangenen Woche. Auf ihr erschreckend stilles Gesicht. »Was zum Teufel ist dann passiert?«
»Ich habe es Ihnen gesagt. Sie war im Verstand des Wahnsinnigen gefangen, als er starb. Sie war nicht stark genug, sich vollkommen von der Rückströmung psychischer Energie frei zu machen.«
»Nicht vollkommen frei? Wo ist sie?«
»Irgendwo dazwischen.«
Ben entfuhr ein Lachen, das keinerlei Humor enthielt. »Himmel. Das war wirklich hilfreich.«
»Sie haben gefragt.«
»Hören Sie, wenn Sie hier schon rumstehen und Ihre Informationen bröckchenweise ausspucken wie Yoda, verraten Sie mir wenigstens etwas, womit ich sie zurückholen kann.«
»Na gut. Wenn Sie Cassie zurückwollen, gehen Sie ihr nach.«
»Wie denn? Ich bin kein Paragnost.«
Bishop trat vom Fenster zurück und ging mit einem Schulterzucken zur Tür. »Dann ist sie verloren. Halten Sie einen Trauergottesdienst für sie ab und machen Sie mit Ihrem Leben weiter.«
»Drecksack.«
An der Tür drehte sich der Agent um und warf Ben einen letzten durchdringenden Blick zu. »Sie sind der Einzige, dem sie in mehr als zehn Jahren erlaubt hat, ihr nahezukommen. Der Einzige mit einer Verbindung zu ihr, die im wahrsten Sinne fleischlich ist. Und Sie sind der Einzige, der sie zurückbringen kann.« Er verließ das Zimmer.
Ben starrte ihm kurz nach, wandte sich dann wieder Cassies stillem, bleichem Gesicht zu. Allmählich gewöhnte er sich an die schneeweiße Strähne in ihrem schwarzen Haar über der linken Schläfe, aber ihre vollkommene Reglosigkeit machte ihn fertig.
Er hatte versucht, mit ihr zu reden. Sie anzuflehen. Er hatte zugesehen, wie Rhodes und sein Ärztestab sie mit lauten Geräuschen und anderen scheinbar schmerzhaften Methoden zu wecken versuchten, jedoch blieb alles erfolglos. Ihr Herz schlug. Sie atmete. Ihr Gehirn zeigte Aktivität.
Aber sie war nicht hier.
»… eine Verbindung, die im wahrsten Sinne fleischlich ist. «
Was sollte das bedeuten? Dass sie, weil sie eine Liebesbeziehung hatten, miteinander verbunden waren? Ben wollte das gern glauben. Doch während der vergangenen, endlosen Woche, als er hier gesessen, sie angestarrt, mit ihr geredet und sie zu erreichen versucht hatte, war von ihr keinerlei Reaktion gekommen.
Die weiße Strähne hatte ihn an ihre Tante denken lassen, woraufhin er in seiner Verzweiflung Alexandra Meltons Tagebücher durchgekämmt und nach etwas gesucht hatte, womit er Cassie helfen konnte. Er hatte unerwartete und erstaunliche Informationen gefunden, einschließlich der Tatsache, dass Alexandra eine Warnung für ihre Nichte hinterlassen hatte, sich von Ben fernzuhalten, um nicht zerstört zu werden.
Eine Warnung, die Cassie eindeutig ignoriert hatte.
Er hatte entdeckt, dass sich ihre Mutter und ihre Tante über Cassies Erziehung zerstritten hatten. Die Mutter hatte darauf bestanden, dem Kind ein starkes Gefühl der Verantwortung einzuprägen, seine Gabe zu benutzen, um anderen zu helfen, wohingegen die Tante gewarnt hatte, diese gefährliche Gabe könne allzu leicht zerstörerisch wirken – wie ihre eigenen paragnostischen Fähigkeiten sie beinahe zerstört hätten.
Ben hatte gedacht, hier eine Antwort gefunden zu haben, hatte gedacht, dass Alexandras Überleben nach einer Art psychischem Schock für Cassie Gutes bedeuten müsse. Doch dann hatte er entdeckt, dass Alexandra nur überlebt hatte, weil ihr Schock nicht so extrem gewesen war wie Cassies. Sie war aus dem Verstand eines Wahnsinnigen herausgezogen worden, aber nicht aus dem eines Sterbenden.
Ihre Tagebücher boten Ben keine Hilfe. Und sehr wenig Hoffnung.
»Ben?«
Er wandte den Kopf und sah Matt im Türrahmen stehen. »Keine Veränderung«, berichtete er leise.
Matt fühlte sich immer noch schuldig,
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