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Eisprinzessin

Eisprinzessin

Titel: Eisprinzessin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Graf-Riemann
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das, was sie vorgeben. Wenn man sie nur lang und genau genug betrachtet, findet man den Haken.
    Meißner sammelte die Scherben der Glas-Bilderrahmen auf, und Brunner kroch unter das Bett und suchte den Boden ab. Als er mit dem Fuß unter einen der Heizkörper fuhr, schob er zwei identische Schlüssel heraus, die zusammen an einem Ring hingen.
    »Fahrradschloss?«, fragte Meißner.
    »Eher Vorhängeschloss. Wie für ein Kellerabteil.«
    Als sie Vilma die Schlüssel zeigten, erkannte sie sie nicht. Die Kellertüren im Haus waren wie erwartet nicht mit Vorhängeschlössern gesichert, und plötzlich hatte es Brunner auffallend eilig, nach Ingolstadt zurückzufahren.
    »Was ist denn los?«, fragte Meißner. »Glaubst du etwa, er hat eine Leiche im Keller versteckt?« Es sollte ein Scherz sein, aber Brunner verzog keine Miene.
    »Weiß man’s? Kannst du dich an den Fall erinnern, von dem ich dir vor Kurzem erzählt habe?«
    »Der Mann mit den Zwillingen?«
    »Genau. Der von ganz Deutschland bedauert worden ist, weil die böse Frau ihn mit zwei kleinen Kindern sitzen hat lassen.«
    »Und wie hat sich die Sache noch mal aufgeklärt?«
    »Er hatte seine Frau bei einem Streit umgebracht und ihre Leiche anschließend im Keller deponiert.«
    »Niemand hat dort nachgesehen?«
    »Nein, der Mann war total glaubwürdig. Die Medien haben ihn zum Helden gemacht. Alle bewunderten ihn für die Tapferkeit, mit der er sein Schicksal angenommen und die Mutterrolle für seine Kinder gleich mit übernommen hat.«
    »Wie lang hat er diese Show denn durchgehalten?«
    »Weiß ich nicht mehr, aber ich glaube, am Ende hat er sogar selbst geglaubt, dass seine böse Frau ihn verlassen hat.«
    Brunner war schon am Auto. Er wirkte wie ein Besessener. In Meißner hingegen zuckte nicht der kleinste Funke einer Vorahnung, nicht das leiseste Kribbeln spürte er beim Hören dieser Geschichte. War sein kriminalistischer Instinkt im Urlaub? Auf Ibiza wie Exkollege Fischer. Mit Widerwillen dachte er an Brunners Eifer, mit dem er bald Eberls Keller oder andere in Frage kommende Räumlichkeiten aufspüren und durchsuchen würde. Wie ein Bluthund, dachte er. Meißner hätte drauf gewettet, dass er nichts finden würde.
    Er selbst wollte noch einmal mit dem alten Helmer sprechen und von ihm persönlich hören, was Eberl seiner Meinung nach gewollt hatte und warum er so ausgetickt war. Außerdem war Meißner noch nie in einem modernen Kühlbetrieb gewesen und neugierig auf die Firma.
    Ingolstadt wirkte an vielen Stellen in der Altstadt wie ein Dorf. Etwa in den Gassen um das Münster herum oder bei der Hohen Schule. Die gedrungenen spätgotischen Häuser der Ingolstädter Altstadt hätten auch in einer Kleinstadt stehen können. Aber hier draußen im Norden, als Meißner sich über Etting der Stadt näherte, war Ingolstadt tatsächlich ein Dorf und machte einen verschlafenen Eindruck, als wäre es ein Überbleibsel aus einer anderen Zeit. Sechziger, frühe siebziger Jahre allenfalls, niedrige Häuschen, deren Außenmauern mit Eternitplatten verkleidet waren. Damals hatte man von einer Asbestbelastung noch nichts gewusst oder es den Hausbesitzern zumindest nicht gesagt. Garagenanlagen mit sauber gefegten Einfahrten und grauen Toren, dazwischen Regenrinnen mit splitterndem Anstrich, Asphalt, der an manchen Stellen aufriss, und öde Flachdächer. Eine Autostadt für den kleinen Mann und sein liebstes Spielzeug, das ab den späten sechziger Jahren für jeden Arbeiter vom Wunschtraum zum erschwinglichen Konsumgut geworden war. Niedrig, grau und ein wenig trostlos wie auch die flache Donauebene mit ihrer Autoindustrie und den Raffinerietürmen. Ingolstadt war eher etwas für Realisten, nicht für Folkloristen. Weniger Lederhose, mehr Laptop. Kaum Dirndlbluse, dafür mehr Kopftuch. Weniger Schweinshaxe, mehr Döner.
    Und obwohl Ingolstadt mit den Alpen nicht mehr als den gleichnamigen Verein gemeinsam hatte, fiel Meißner, gerade als er die Stadtgrenze passierte, sein Traum aus der letzten Nacht ein. In der Sebastianstraße träumte er häufiger als in seiner eigenen Wohnung, das war ihm schon öfter aufgefallen. Ob das an durchlaufenden Wasseradern unter seinem eigenen Schlafzimmer oder einfach am Alleinsein in seiner Singlewohnung lag, wusste er nicht.
    Aus den zuerst nur undeutlichen nächtlichen Bildern ergab sich allmählich sogar so etwas wie eine Handlung. Im Traum war er geflogen – aus eigener Kraft. Er hatte geträumt, er springe mit Skiern von einer

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