063 - Im Labyrinth des Ghuls
Dunkle Wolken
hingen schwer am Himmel. Kein Stern, kein Mond leuchtete. Es war finstere
Nacht. Der Mann, der sich wie ein Schatten hinter dem hohen, verwitterten
Grabstein löste, hatte breite Schultern, kräftige, affenähnliche Arme und
stämmige Beine.
Ungepflegtes
Haar hing ihm wirr ins Gesicht, das auffallend bleich war, als flösse kein
Tropfen Blut durch die Adern des einsamen Friedhofbesuchers.
Die klobigen,
kräftigen Hände mit den langen Fingernägeln schabten trocken über das rauhe
Gestein.
Der Ghul
kehrte in sein Reich zurück.
●
»Halt’s Maul,
Kumpel«, grölte die Rothaarige, griff nach dem halbgefüllten Glas und schüttete
den üblen Fusel in sich hinein. Wie Öl lief der Alkohol die Kehle des Animiermädchens
hinunter. Sie schüttelte sich nicht mal. Der Mann, auf dessen Schoß sie saß,
musterte sie aus wäßrigen Augen.
»Ich glaube,
jetzt reicht’s«, murmelte Paul Morey. Man sah ihm an, daß auch er schon etliche
über den Durst getrunken hatte, aber er konnte noch erkennen, daß man es nicht
nur mit ihm gut meinte. Die Rothaarige sorgte nämlich dauernd dafür, daß die
Flasche schneller leer wurde, als dies normalerweise der Fall war. Das allein
jedoch hätte ihn nicht mal gestört.
Es war ihm
aufgefallen, daß sie das Glas, das sie sich vollschenkte, nicht immer austrank.
Der Inhalt wanderte heimlich an den nächsten Tisch weiter, wo zwei finster
blickende Kerle saßen und sich von der Dame offensichtlich auf ihre Weise
freihalten ließen.
Die Rote
strich sich durch das gelockte Haar. Ihr strammer Busen stieß gegen Paul Moreys
Kinn und gewährte dem Angetrunkenen Einblick in tiefere Gefilde. »Du hast was
gegen mich, stimmt’s ?« fragte sie lautstark. »Du
gönnst mir die paar Tropfen wohl nicht ?«
»Dir schon,
aber nicht den Kerlen nebenan«, preßte Paul Morey leise zwischen den Zähnen
hervor.
Die Luft war
stickig und rauchgeschwängert. Die Qualmwolken hingen dick und schwer im Raum.
»Oder biste
etwa pleite ?« Die Rote kniff die großen, glänzenden
Augen zusammen, stieß sich an Moreys Brust ab und stellte sich auf die Beine.
Ihre Schenkel zeichneten sich üppig unter dem enganliegenden Rock ab, der
gerade noch ihr Gesäß bedeckte. »Ich habe ein bißchen mehr von dir gehalten.
Wenn du glaubst, daß ich noch für dich zahle, dann irrst du dich. Mit Marnie
steigt man nicht so ganz ohne ins Bett. Ich verschenk meinen Körper nicht !«
Abrupt wandte
sie sich ab. »Die Rechnung für Tisch vier«, rief sie durch die Kneipe. »Aber
beeil dich, Jenny, sonst geht dem Kumpel hier inzwischen die Puste aus und er
läßt noch anschreiben !«
Jenny war
eine schlanke Person mit langen, wohlgeformten Beinen und einem kleinen runden
Po, der unwillkürlich die Blicke auf sich zog. Das lag nicht allein an der
großen, hervorragend gebundenen Schürzenschleife, die bei jeder Bewegung auf-
und abwippte.
»Sonnyboy
will zahlen ?« fragte Jenny. Sie war frisch wie eine
Blume und paßte irgendwie nicht in diese Spelunke, die sich Last Rose
schimpfte. Paul Morey hätte sich ohrfeigen können, daß er hier reingestiefelt
war. Aber was machte ein Mann nicht alles, wenn er wütend oder verärgert war.
Bei ihm zu Hause stimmte es schon lange nicht mehr. In den letzten Monaten war
er fast zu einem Dauergast in den verrufenen Kneipen unten am Hafen und hier in
Soho geworden. Er rutschte immer tiefer ab, und der Sumpf, in den er geraten
war, drohte ihn zu verschlingen.
Sein Leben
war verwirkt. Es gelang ihm nicht mehr, sich zu fangen. Zu lange schon lebte er
von Patricia getrennt. Ob er es nicht doch noch mal versuchen sollte? Er
merkte, wie Selbstmitleid in ihm aufstieg. Aber er verdrängte die auf ihn
einstürmenden Gefühle ebenso schnell wieder, wie sie gekommen waren.
»Was kostet
der Spaß ?« fragte er lächelnd und warf der anziehenden
Jenny einen aufmerksamen Blick zu. »Weil Sie’s sind, dürfen Sie zehn Prozent
mehr nehmen. Ich hoffe, Sie revanchieren sich .«
»Das kommt
darauf an .« Sie hatte eine angenehme, dunkle Stimme.
Paul konnte es nicht unterlassen, ihr einen sanften Klaps aufs Hinterteil zu
geben. Jennys einzige Reaktion war ein leichtes Hochziehen der Augenbrauen.
»Das ist
eigentlich nur Stammgästen erlaubt«, sagte sie sanft, und ein leichtes Lächeln
erhellte ihre gleichmäßigen Züge.
»Was nicht
ist, kann noch werden. Bei Ihnen möchte ich gern Stammgast sein .«
»Ich liebe
großzügige Männer. Was Marnie jedoch zu erkennen gab, läßt nicht
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