Eisprinzessin
des Ganges. Als er hinter einer Gelächter und vereinzeltes Klatschen hörte, klopfte er und öffnete die Tür.
Eine Gruppe von zwölf Personen saß im Halbkreis um die Lehrkraft, die vor einem Whiteboard und einer Magnettafel, an der bunte Zettel hingen, auf dem Pult hockte. Der Lehrer war Ende dreißig, hatte schwarzes Haar, eine hohe Stirn, ausgeprägte Geheimratsecken und ein Kinn mit dunklem Bartschatten. Ein Südländer wie aus dem Reiseprospekt.
»Buona sera«, sagte Meißner.
»Hi, I’m Victor«, antwortete sein Gegenüber.
Victor war Malteser und unterrichtete Englisch.
»Sie kommen wegen Charlotte?« Er sagte »Tscharlott«.
Sie unterhielten sich draußen im Gang. Meißner fragte, wie gut er Charlotte kannte und ob ihm in letzter Zeit irgendeine Veränderung an ihr aufgefallen sei.
»Charlotte ist eine hübsche und kluge Frau«, sagte Victor. »Aber sehr schüchtern. Sie spricht nicht viel.«
»Kennen Sie ihren Mann auch?«
»Ich habe ihn mal gesehen, ja. Der spricht auch nicht viel.« Er lachte. »Vielleicht kommen die anderen Leute aber auch gar nicht zu Wort, weil ich so viel rede. Das kann auch sein. Aber so sind wir Malteser nun mal. Kennen Sie Malta? Waren Sie schon mal da?«
»Leider nein. Das heißt also, dass Sie Charlotte nicht näher kennen? Ich meine, Sie gehen nicht manchmal zusammen auf ein Bier oder machen außerhalb der Arbeit etwas zusammen.«
»Nein, so gut wie nie. Ich hab sie mal vor Monaten auf einen Kaffee eingeladen, das war’s schon.«
»Und haben Sie dabei vielleicht etwas Persönliches von ihr erfahren? Oder wie’s ihr mit der Arbeit ging? Ich meine, hatten Sie den Eindruck, dass sie mit ihrem Leben zufrieden ist?«
»Nein, das Gefühl hatte ich eigentlich nicht. Aber das ist auch wieder eine schwierige Sache bei uns Südländern. Wir treffen eine schöne Frau, und wenn wir erfahren, dass sie verheiratet ist, und so einen eher unscheinbaren Mann neben ihr sehen, dann denken wir gleich, dass sie einfach unglücklich sein muss. Das würde uns gefallen. So wie eben hübsche blonde Frauen. Blonde Männer sind dagegen nur eine Gefahr, wenn sie einen Meter neunzig groß sind und ein Kreuz wie ein Profischwimmer haben. Von denen lässt sich selbst ein Italiener verunsichern. Von daher ist unser Urteil sehr subjektiv. Sie verstehen, was ich meine?«
»Was ich verstanden habe, ist, dass Charlotte Helmer Ihnen gefällt, ihr Mann aber nicht.«
»Die beiden zusammen gefallen mir nicht. Ich habe zwischen ihnen keine Leidenschaft gesehen, verstehen Sie? Und dabei sind sie ja noch gar nicht lange verheiratet.«
»Und da haben Sie Charlotte ganz uneigennützig einen besseren Mann an ihre Seite gewünscht. So einen, wie Sie selbst einer sind?«
»Genau, Sie haben recht. So einfach bin ich gestrickt. Damals im Café kam sie mir ein bisschen traurig vor. Ein bisschen zu still. Ach, ich weiß doch auch nicht, wie ich es beschreiben soll. Charlotte ist sehr nett, eine sympathische Arbeitskollegin, immer korrekt, immer pünktlich und so. Aber warum wollen Sie das wissen? Das habe ich doch alles schon Ihrem Kollegen erzählt.«
»Meinem Kollegen? Und wer war das, wissen Sie den Namen noch?«
»Tut mir leid, keine Ahnung. Carla, unsere Praktikantin, war noch da. Mit ihr hat er sich auch unterhalten.«
»Ach so? Na gut. Danke jedenfalls für Ihre Auskünfte, Victor. Und falls Ihnen noch etwas einfällt, rufen Sie mich doch bitte an, ja?« Meißner gab ihm seine Karte.
»Okay«, versprach Victor. »Wollen Sie vielleicht noch die Witze hören, die meine Schüler in der Zwischenzeit vorbereitet haben?«
»Ich fürchte, da werde ich mit meinem Schulenglisch nicht mitlachen können.«
»Dann kommen Sie doch einmal nach Malta und machen Sie bei mir einen Sprachkurs. Ich bin jeden Sommer für zwei Monate da.« Er drückte Meißner einen Flyer in die Hand.
»Ich werd’s mir überlegen«, versprach der Kommissar.
* * *
So also sah das Lokal, an dem er schon oft vorbeigelaufen war, von innen aus. Das »Granada« gab es schon seit Ewigkeiten. Es hatte mindestens ein Mal die Adresse gewechselt und war irgendwann von der Westlichen Ringstraße mitten hinein in die Fußgängerzone umgezogen. Meißner hätte wahrscheinlich auch die nächsten fünf Jahre das »Granada« nicht betreten, wenn Kollege Holler ihn und die Kollegen nicht zu einer kleinen Geburtstagsfeier in das Restaurant eingeladen hätte. Er feierte weder den vierzigsten noch den fünfzigsten Geburtstag, sondern den unrunden
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