Inside Anonymous: Aus dem Innenleben des globalen Cyber-Aufstands (German Edition)
Kapitel 1: Der Raid
Am 6. Februar 2011 ließen sich in ganz Amerika Millionen Menschen auf ihre Sofas fallen, rissen Chipstüten auf und gossen Bier in Plastikbecher; alles zur Vorbereitung auf das größte Sportereignis des Jahres. An diesem Sonntag fand das Super-Bowl-Endspiel zwischen den Footballmannschaften der Green Bay Packers und der Pittsburgh Steelers statt. Während die Packers gewannen, musste Aaron Barr, Manager einer Internetsicherheitsfirma, hilflos zusehen, wie sieben Menschen, denen er nie begegnet war, sein Leben auf den Kopf stellten. Super Bowl Sunday war der Tag, an dem er mit Anonymous konfrontiert wurde.
Nach diesem Wochenende hatte das Wort anonymous eine neue Bedeutung gewonnen. Es stand nicht mehr nur für »anonym«, sondern bezeichnete jetzt – mit großem A – auch eine ungreifbare, finstere Gruppe von Hackern, die mit allen Mitteln Gegner des freien Informationsflusses angriffen, darunter auch Menschen wie Barr. Dieser, verheiratet und Vater von Zwillingen, hatte den Fehler gemacht, herausfinden zu wollen, wer sich tatsächlich hinter Anonymous verbarg.
Der Schlag erfolgte schon zur Mittagszeit, sechs Stunden vor dem Anstoß im Super Bowl. Barr saß in Jeans und T-Shirt auf dem Wohnzimmersofa in seinem Washingtoner Vororthaus, als er bemerkte, dass das iPhone in seiner Tasche sich seit einer halben Stunde nicht mehr gemeldet hatte. Normalerweise kam etwa alle Viertelstunde eine E-Mail. Als er sein iPhone nahm und die E-Mails aufrufen wollte, erschien ein dunkelblaues Fenster mit drei Worten, die sein Leben verändern sollten: Cannot Get Mail – kein E-Mail-Empfang. Das E-Mail-Programm fragte nach seinem Passwort, und Barr tippte es gehorsam in die Account-Einstellungen des iPhones: »kibafo33«. Es half nichts, er bekam immer noch keine E-Mails.
Ratlos starrte er das Display an. Langsam wurde ihm klar, was diese Fehlermeldung bedeutete, und er bekam Angst. Vor einigen Stunden hatte er mit einem Hacker namens Topiary von Anonymous gechattet und seitdem geglaubt, dass er aus dem Schneider sei. Jetzt sah er, dass jemand seinen Account bei HBGary Federal geknackt, damit Zugang zu Zehntausenden Firmen-E-Mails gewonnen und ihn dann ausgesperrt hatte. Das hieß, dass irgendjemand irgendwo vertrauliche Vereinbarungen und Dokumente eingesehen hatte, die eine internationale Bank, eine angesehene Behörde der US-Regierung und auch seine eigene Firma kompromittieren konnten.
Immer mehr Geheimdokumente und nicht für die Öffentlichkeit bestimmte Nachrichten fielen ihm ein; nach jeder folgte eine Welle der Übelkeit. Barr stürmte die Treppe zu seinem Arbeitszimmer hinauf und setzte sich an den Laptop. Er wollte sich in seinen Facebook-Account einloggen, um mit einem ihm bekannten Hacker zu sprechen, der ihm vielleicht helfen würde. Aber dieses Netzwerk, in dem er mehrere hundert Freunde hatte, war blockiert. Er versuchte es mit Twitter, wo er einige Hundert Followers hatte. Nichts. Dasselbe bei Yahoo. Fast alle seine Internet-Accounts waren gesperrt, sogar der für World of Warcraft, ein Online-Rollenspiel. Barr verfluchte sich im Stillen selbst dafür, dass er überall dasselbe Passwort verwendete. Auf seinem WLAN-Router blinkten wild die Kontrolllichter – er wurde mit Anfragen überschwemmt, mit denen die Angreifer sich weiter in sein Heimnetzwerk vorarbeiten wollten.
Er zog den Stecker. Die blinkenden Lichter erloschen.
Aaron Barr war früher beim Militär gewesen. Der breitschultrige Mann mit den pechschwarzen Haaren und dichten Augenbrauen, die auf entfernte südeuropäische Vorfahren schließen ließen, hatte nach zwei Semestern das Collegestudium abgebrochen und sich bei der US-Marine gemeldet. Ziemlich schnell wurde er zum SIGINT Officer, also zum Abhörexperten im Geheimdienst, und zwar als Analytiker, ein eher seltenes Fachgebiet. Es folgten zahlreiche Auslandsposten: vier Jahre in Japan, drei in Spanien, Aufträge in ganz Europa, von der Ukraine über Portugal bis nach Italien. Er diente auf Landungsbooten und geriet im Kosovo unter Feuer. Dieses Erlebnis machte ihm bewusst, wie sehr der Krieg Soldaten gegenüber dem Wert des menschlichen Lebens abstumpfte.
Nach zwölf Jahren bei der Marine suchte er sich einen zivilen Job bei Northrop Grumman, einem Konzern mit vielen Rüstungsaufträgen. Er gründete eine Familie, versteckte seine Seemannstätowierungen und wurde zum Geschäftsmann. Im November 2009 fragte ihn dann ein Sicherheitsberater namens Greg Hoglund, ob er
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