Elia Contini 03 - Das Verschwinden
Freien und bestellte ein Frappé. Ringsum herrschte noch immer diese Ferienstimmung. Alles war leichter als sonst. Am Ende der abfallenden Straße sah sie die Wasserfontäne aus dem See schießen. Sie schien seltsam reglos, wie aus Glas. Um die Säule des Brunnens zu ihrer Linken wanden sich leuchtend bunte Blumenarrangements. Wie bei einem Dorffest.
Barbara und Jenny staunten nicht schlecht, sie zu sehen.
»Natalia! Bist du doch nicht gefahren?«
»Ich hab noch nicht gepackt.«
Barbara starrte sie sekundenlang an.
»Willst du nicht heim?«
Natalia hob die Schultern. »Ich weiß nicht.«
»Du musst aber heim, das weißt du.« Sie setzten sich zu ihr. »Deine Mutter braucht dich jetzt.«
Natalia nickte.
»Natalia.« Jenny legte ihr die Hand auf den Arm. »Barbara hat’s mir erzählt. Von deinem Vater.«
Natalia nickte wieder. Was erwarteten sie von ihr?
»Ist denn klar …«, begann Jenny und unterbrach sich. »Ich meine, wisst ihr schon, was passiert ist?«
»Herzstillstand«, erklärte Natalia. »Sein Herz war nicht gesund.«
»Ach.«
»Aber so schlimm war es nicht, ich meine, wir hätten nie gedacht …« Natalia brach ab. Sie wechselte das Thema. »Aber ihr, was habt ihr denn heute vor?«
»Oh, nichts, ich muss lernen«, sagte Jenny. »Ich habe noch eine letzte Prüfung vor mir, und das verdränge ich gelegentlich.«
»Morgen schleppe ich dich in die Bibliothek«, sagte Barbara.
Natalia lächelte, und die beiden Mädchen fühlten sich ermutigt, sie mit allerlei Geplauder abzulenken. Natalia ging bereitwillig darauf ein und zögerte den nächsten Blick auf die Uhr hinaus.
»Trinken wir noch ein Frappé?«
Rechts vor ihnen stand der Justizpalast. Über dem Portal wehte die Schweizer Fahne, und auf einem Schild stand POLICE. Aber es wirkte seltsam unecht, fast spielerisch: Vor dem Eingang standen zwei winzige Autos, Smarts mit bunten Seitentüren und der gleichen Aufschrift POLICE, und sahen aus, als wären sie zur Zierde hier aufgestellt.
»Jedenfalls hätte er’s doch gemerkt, wenn sich Camilla einen Schubs gegeben hätte.«
»Tja, die andere war eben schneller.«
»Ja, gut für sie, denn wenn sie gewartet hätte, bis Paolo einen Finger rührt …«
Ich muss nach Hause, dachte Natalia. Die Ferien sind vorbei. An den Häusern standen die Fenster weit offen, in der Ferne rauschte die Fontäne, und zwischen den Cafétischchen eilten die Kellner hin und her. Es war alles in Bewegung. Natalia konnte nicht länger warten. Sie musste nach Hause, zu ihrer Mutter, die Lampen im leeren Haus einschalten.
Die Hand an die Kerze halten.
Sie hatte noch immer einen starken Bewegungsdrang. Sie verschwieg ihrer Mutter die Ankunftszeit des Zugs und ging vom Bahnhof aus zu Fuß, durch die Via San Gottardo, von der sie rechts in die Via Praccio einbog. Als sie zum Vorort Massagno hinaufstieg, leuchteten ihr aus den Gärten blau die Swimmingpools entgegen, und auf den Terrassen standen aufgespannte Sonnenschirme.
Die Abendsonne warf längere Schatten über die Wiesen. Natalia schwitzte. Auf die Anstrengung konzentriert, zerrte sie ihren Koffer hinter sich her und heftete den Blick auf die nächste Straßenbiegung.
Zwei oder drei Kurven vor ihrem Elternhaus lag ein unbebautes, von einer Hecke eingefasstes Grundstück. Natalia blieb davor stehen und begrüßte den Gärtner, der, wie sie aus seinem Lieferwagen, dem Rasenmäher daneben, dem frischen Grashaufen in einer Ecke des Grundstücks schloss, die Wiese gemäht hatte. Der Gärtner holte Säcke von der Ladefläche seines Wagens. Natalia roch das frisch gemähte Gras. Es war ein Sommergeruch, der tief in die Nase eindrang und verschwommene Erinnerungen weckte.
Mein Vater wird nie mehr frisch gemähtes Gras riechen, schoss es Natalia durch den Kopf.
Es war eine blitzartige Erkenntnis. In Sekundenschnelle fiel der Schmerz sie an und verließ sie nicht mehr. In den folgenden Stunden nahm er verschiedene Gestalten an, trat in unterschiedlicher Schärfe auf. Manchmal brach sie aus heiterem Himmel in Tränen aus, oder sie verschanzte sich hinter eisernem Schweigen. Aber sie war nicht mehr konfus, sie hatte keine Angst mehr vor ihren Gefühlen. Tags darauf, während der Vorbereitungen für die Beerdigung, war sie der Situation gewachsen.
Ihre Mutter, das spürte sie, beobachtete sie. Aber sie sagte nichts, sie suchte nicht die Einsamkeit. Im Gegenteil, sie redete ihrer Mutter zu, ins Restaurant essen zu gehen, die Verwandten in Bern anzurufen, Papas Kollegen zu
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