Endstation Belalp - ein historischer Bergkrimi
Professor James McGregor, der berühmte Geologe, Gletscher-Forscher und erfolgreiche Berggänger führt festen Schrittes eine Gruppe von fünf Maultieren an. Er geht neben dem führenden Tier her und hält die linke Hand der Dame, die sich darauf zu halten versucht – und dabei sehr an einen Wackelpudding erinnert. Von Zeit zu Zeit zeigt der Professor mit der freien Hand auf die umliegenden Berge und sagt etwas. Doch die Dame, der seine Erläuterungen zugedacht sind, starrt nur auf den Hals des Tieres, wie hypnotisiert von dessen Nackenhaaren. Mit der freien rechten Hand hält sie sich am Schweif des Tieres fest, als versuchte sie ihm alle Haare auszureissen.
Amalia seufzt. Gut, dass der Professor zeitig ankommt, so kann sie ihn richtig einquartieren. Er kennt und liebt diesen Flecken Erde. Er kennt auch den Gletscher gut. Seit Jahren macht er dort Messungen. Er hat das neue Hotel noch nicht gesehen. Früher hauste er wie andere auch in den Alphütten im Heu. Ihr Vater bot ihm in Naters manchmal eine Übernachtungsgelegenheit an, und im Schiiri 4 der Familie Brindlen stellte der Professor jeweils seine Gerätschaften bis zum folgenden Sommer ein.
Als die Träger den Vorplatz erreichen, setzen sie ihre Fracht behutsam ab, indem sie sich drehen und dabei das Holzgerüst langsam an sich abgleiten lassen. Die junge Lady wirkt wie aus Porzellan. Vorsichtig rutscht sie von ihrem Sattel herunter und streicht mit beiden Händen ihre Röcke glatt. Ohne das Empfangskomitee zu beachten, blickt sie um sich, rümpft kurz die Nase und wackelt dann ungelenk auf ihren hohen Stiefelchen ein paar Schritte im Kreis herum. Der Professor hält ihr den Arm zum Einhaken hin und blickt versonnen zu ihr hinunter. Niemand sagt ein Wort.
Doch Amalia weiss die Situation zu meistern. «Guten Tag und herzlich willkommen, Professor McGregor, schön, Sie wieder bei uns zu haben. Mylady », mit einer leichten Verbeugung wendet sich Amalia der jungen Dame zu, «sind Sie gut gereist?»
«Guten Tag, Amalia», erwidert der Professor den Gruss der Hôtelière, «ja, wunderbar, die Luft hier ist immer so erfrischend. Darf ich vorstellen: meine Frau Lady Penelope Lancaster. Penelope, Mrs Amalia Germanier, sie führt das Hotel. Ihr Gatte hat es erbaut, vor ein paar Jahren, nicht wahr, Amalia?»
Amalia nickt. Die Germaniers hatten ihre Chance vor einigen Jahren gesehen und gepackt. Als die englischen Gäste immer zahlreicher wurden, fehlte es an Betten, und man wollte Panorama sehen. Da die Familie Germanier im Mittelwallis schon ein Hotel besass, dachte Pierre, es wäre schön, auch auf der Belalp eines zu bauen. Amalia als Einheimische könnte dann die Leitung übernehmen. Zwei Jahre dauerte die Bauzeit.
«Ganz recht, Herr Professor. Pierre hat das schöne Haus gebaut. Willkommen, willkommen, meine ganze Belegschaft heisst Sie recht herzlich willkommen und wird Ihnen gerne zu Diensten sein. Vreni, nimm die Sachen der Herrschaften und bring sie ins Zimmer 11. Einer der Träger kann dir helfen.»
«Siehst du, Penelope, das hier wird dir guttun. Diese Luft, fresh as spring water , so frisch wie der Bergquell, da wird deine Haut gleich etwas von ihrem Londoner Bleichkäse verlieren», der Professor lacht laut, während seine Gattin ihn mit ihren stahlgrauen Augen streng anstarrt.
«Amalia, wie ich sehe, ist der Gletscher in den letzten Jahren noch gewachsen. Eindrücklich!», der Professor knöpft seinen Mantel auf, holt ein Fernrohr hervor und zieht es mit geübten Bewegungen auseinander. Er legt es an sein rechtes Auge, kneift das linke zu und streift damit langsam über den Gletscher. Dann nimmt er das Gerät vom Auge und reicht es seiner Frau.
«Du musst ein Auge schliessen, Darling, dann kannst du den Gletscher aus der Nähe sehen.»
Penelope nimmt das Gerät, beugt sich etwas vor, und hält dabei die beiden Ellenbogen seitlich hoch. Die Finger hält sie an das Fernrohr, als ob es eine Flöte wäre. Sie verzieht die Mundwinkel zu einer komischen Fratze.
«Ich sehe nichts, James, ich sehe nur Weiss und Grau, es ist alles verschwommen.» Schliesslich entfährt ihr ein «Oh! Was ist denn das da hinten, diese schwarzen Kreuze?».
«Ja, wir mussten Kreuze aufstellen mit dem Heiligen Herrn Jesus, damit der Gletscher in seinem Wachstum gestoppt werden kann. Letzten Monat war Pfarrer Bortis hier oben und hat sie eingesegnet», erklärt Amalia.
«Ach, wie köstlich», lacht Professor McGregor, «sonst würde der Gletscher am Ende das ganze Hotel
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