Engelsfluch
mächtigsten. Und wenn der nächste Direktor seiner Aufgabe nicht gewachsen ist, müssen wir eine Rebellion fürchten.«
Raphael fand ihre Wortwahl sehr aufschlussreich. Offenbar hatte Michaela Angst, dass ihre Vampire jede sich bietende Gelegenheit nutzen würden, ihrer liebevollen Obhut zu entkommen.
»Das reicht jetzt.« Titus ließ die massigen Muskeln unter seiner glänzenden schwarzblauen Haut spielen. »Führt den Menschen herein und lasst uns hören, was er zu sagen hat.«
Raphael dachte genauso und sandte Illium eine telepathische Botschaft. Schick Simon herein.
Kurz darauf öffnete sich die Tür und ein hochgewachsener Mann mit dem durchtrainierten Körper eines Soldaten trat ein. Er hatte schlohweißes Haar und ein faltiges Gesicht, doch seine Augen funkelten klar und strahlend blau. Sobald Simon über die Schwelle getreten war, schloss Illium die Türen, damit sie wieder ungestört waren.
Der alte Gildedirektor sah Raphael an und nickte ihm einmal kurz zu. »Ich fühle mich geehrt, dass Sie mich hergebeten haben. Ich hätte nicht gedacht, dass ich einmal vor dem Kader stehen würde.«
Ungesagt blieb dabei, dass die meisten Menschen, die es mit dem Kader zu tun bekamen, als Leiche endeten.
»Setzen Sie sich.« Favashi deutete auf einen leeren Stuhl vor dem Halbkreis.
Obgleich der Gildedirektor ohne Umstände Platz nahm, bemerkte Raphael, dass das Alter nicht spurlos an ihm vorbeigegangen war, schließlich hatte er diesen Mann auf dem Höhepunkt seiner Karriere erlebt. Doch er war auch kein alter Mann, würde es nie sein. Simon war ein Mann, den man respektierte. Einst, vor tausend Jahren, hätte ein solcher Mann Raphaels Freund sein können. Mittlerweile aber hatte er gelernt, dass das Leben eines Sterblichen nur einen Wimpernschlag währte.
»Sie wollen sich zur Ruhe setzen?«, fragte Neha hoheitsvoll. Sie war eine der wenigen, die noch Hof hielt – und selbst wenn die Königin der Gifte einen tötete, konnte man nicht umhin, ihre königliche Würde bis zum letzten schmerzhaften Atemzug zu bewundern.
Simon ließ sich von ihr nicht aus der Fassung bringen. Die vierzig Jahre als Gildedirektor hatten ihn selbstbewusst gemacht, zu Beginn seiner Karriere hätten ihn Nehas Worte verstummen lassen.
»Ich muss«, sagte er. »Meine Jäger wären zwar froh, wenn ich im Amt bliebe, aber ein guter Direktor muss das Wohl der gesamten Gilde im Auge haben. Ihr Anführer sollte in der Lage sein, sich notfalls auch an einer Jagd zu beteiligen.« Er lächelte wehmütig. »Ich bin erfahren und stark, doch längst nicht mehr so reaktionsschnell, und ich setze auch nicht mehr leichtfertig mein Leben aufs Spiel.«
»Offen und ehrlich.« Titus nickte anerkennend. Unter Kriegern und ihresgleichen fühlte er sich am wohlsten. Er regierte sein Land mit eiserner Faust und hielt mit seiner Meinung nie hinter dem Berg. »Nur ein mächtiger Feldherr tritt freiwillig zurück.«
Simon nahm das Kompliment mit einer leichten Verbeugung entgegen. »Ich werde immer ein Jäger bleiben und stehe, wie es unser Brauch verlangt, der neuen Direktorin bis an mein Lebensende zur Verfügung. Allerdings habe ich nicht den geringsten Zweifel an ihren Fähigkeiten.«
»Direktorin?« Charisemnon schnaubte verächtlich. »Eine Frau?«
Michaela zog eine Augenbraue hoch. »Mein Respekt für die Gilde ist gerade um das Hundertfache gestiegen.«
Simon ließ sich nicht dazu hinreißen, auf die Kommentare einzugehen. »Sara Haziz ist aus vielerlei Gründen die beste Wahl für meine Nachfolge.«
Astaad glättete seine Flügel. »Lassen Sie hören.«
»Bei allem Respekt«, sagte Simon leise, »aber das ist nicht Sache des Kaders.«
Diesmal reagierte Titus als Erster. »Sie wagen es, sich uns zu widersetzen?«
Simon blieb unnachgiebig. »Die Gilde ist immer neutral gewesen und das aus gutem Grund. Unsere Aufgabe besteht darin, Vampire einzufangen, die ihren Vertrag gebrochen haben. Doch im Laufe der Jahrhunderte gerieten wir immer wieder zwischen die Fronten kriegerischer Engel. Nur dank unserer Neutralität haben wir überlebt. Wenn der Kader sich zu sehr in unsere Geschicke einmischt, verlieren wir diesen Schutz.«
»Hübsch gesagt«, sagte Neha.
Simon sah ihr ins Gesicht. »Und doch ist es wahr.«
»Ist die Frau denn fähig?«, fragte Elias. »Diese Gewissheit müssen wir haben, denn ein Sturz der amerikanischen Gilde würde weite Kreise ziehen.«
Vampire würden außer Kontrolle geraten, dachte Raphael. Einige würden vielleicht in
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