Das andere Kind
SAMSTAG, 19. DEZEMBER
Sie wusste, dass sie so schnell wie möglich
verschwinden musste.
Dass sie in Gefahr schwebte
und dass sie verloren war, wenn die Leute, die auf dem einsamen Hof lebten, auf sie aufmerksam wurden.
Der Mann stand plötzlich wie aus dem Boden
gewachsen vor ihr, gerade als sie am Hoftor ankam und sich eilig auf den Weg hinunter zu ihrem
Auto machen wollte. Er war groß und nicht so ungepflegt, wie man es von dem Bewohner eines so
heruntergekommenen Gehöfts erwartet hätte. Er trug Jeans und einen Pullover. Seine grauen Haare
waren sehr kurz geschnitten. Er hatte helle Augen, in denen nicht die Spur eines Gefühls zu
erkennen war.Semira konnte nur hoffen, dass er sie nicht hinter den Stallgebäuden gesehen
hatte.
Vielleicht hatte er ihr Auto entdeckt
und kam nun, um nachzuschauen, wer sich hier herumtrieb. Ihre einzige Chance bestand darin, ihm
Harmlosigkeit und Unbefangenheit überzeugend vorzuspielen, und das, obwohl ihr Herz jagte und
ihre Knie zitterten. Ihr Gesicht war feucht von Schweiß, trotz der beißenden Kälte des bereits
dämmrigen Dezembernachmittags.
Seine Stimme war so kalt wie seine Augen. »Was
tun Sie hier?«
Sie probierte ein Lächeln und hatte den Eindruck,
dass es zittrig ausfiel. »Gott sei Dank. Ich dachte schon, hier ist niemand ... «
Er musterte sie von oben bis unten. Semira versuchte sich vorzustellen, was er sah. Eine
kleine, dünne Frau, keine dreißig Jahre alt, warm verpackt in lange Hosen, gefütterte
Stiefel, einen dicken Anorak. Schwarze Haare, schwarze Augen. Dunkelbraune Haut. Hoffentlich
hatte er nichts gegen Pakistanis. Hoffentlich bemerkte er nicht, dass er eine Pakistani vor
sich hatte, die meinte sich vor Angst jeden Moment übergeben zu müssen. Hoffentlich nahm er
ihre Furcht nicht wahr. Semira hatte den beklemmenden Eindruck, dass man sie riechen
konnte.
Er machte eine Kopfbewegung hin zu dem Wäldchen
am Fuß des Hügels. »Ihr Auto?«
Es war ein Fehler gewesen, es dort unten zu
parken. Die Bäume standen zu weit auseinander und trugen kein Laub, sie verbargen nichts. Er
hatte es von einem der oberen Fenster seines Hauses gesehen und sich seine Gedanken
gemacht.
Sie war ein Idiot. Hierherzukommen und niemandem
Bescheid zu sagen. Und dann noch ihr Auto in Sichtweite der gottverlassenen Farm zu
parken.
»Ich ... habe mich völlig verfahren«, stotterte
sie. »Keine Ahnung, wie ich hier gelandet bin. Dann habe ich Ihr Haus gesehen und dachte, ich
könnte fragen, ob ... «
»Ja?«
»Ich bin neu in der Gegend.« Sie fand, dass ihre
Stimme völlig unnatürlich klang, viel zu hoch und etwas schrill, aber er konnte ja nicht
wissen, wie sie für gewöhnlich sprach. »Ich wollte eigentlich, ich wollte ... «
»Wohin wollten Sie denn?« Ihr Kopf war leer.
»Nach ... nach ... wie hieß der Ort ... ?« Sie leckte sich über die trockenen Lippen. Sie stand
einem Psychopathen gegenüber. Der Mann gehörte nicht nur in ein Gefängnis, er gehörte in die
Sicherheitsverwahrung, davon war sie überzeugt. Sie hätte niemals allein hierherkommen dürfen.
Niemand war da, der ihr helfen konnte. Sie war sich der vollkommenen Einsamkeit, der
Weltabgeschiedenheit des Ortes, an dem sie sich befand, nur zu bewusst. Kein anderer Hof weit
und breit, keine Menschenseele.
Sie durfte keinen Fehler machen. »Nach ... «,
endlich kam ihr ein Name in den Sinn, »Whitby. Ich wollte nach Whitby.«
»Da sind Sie ganz schön weit von der Hauptstraße
abgekommen.«
»Ja. Das schien mir allmählich auch so.« Wieder
lächelte sie verkrampft. Der Mann erwiderte ihr Lächeln nicht. Er betrachtete sie aus diesen
starren Augen. Aber trotz der Gefühllosigkeit, die von ihm ausging, konnte Semira sein
Misstrauen spüren. Seinen Argwohn, der mit jeder Sekunde, da er mit ihr sprach, zu wachsen
schien.
Sie musste weg !
Sie zwang sich, ruhig stehen zu bleiben, obwohl
sie am liebsten losgestürzt wäre. »Vielleicht können Sie mir sagen, wie ich zur Hauptstraße
zurückkomme?«
Er antwortete nicht. Seine gletscherblauen Augen
schienen sie zu durchdringen. Sie hatte tatsächlich nie kältere Augen gesehen. So kalt, als sei
kein Leben mehr in ihnen. Sie war froh, dass sie einen Schal um den Hals trug. Sie konnte
spüren, dass ein Nerv rechts unterhalb ihres Kiefers heftig zuckte.
Das Schweigen dauerte zu
lange. Er versuchte etwas he raus - zufinden. Er traute ihr nicht. Er wog das Risiko ab, das
von dieser kleinen Person für
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