Es geht uns gut: Roman
ausklammert, weiß sie in mindestens gleichem Maß, daß für Richard die verbleibende Spanne weder hinsichtlich ihrer Länge noch ihrer Qualität Anlaß gibt, in Jubel auszubrechen – wohl einer der Gründe, weshalb ihm das Aufstehen so schwerfällt. Man sieht ihn selten vor zehn. Alma würde gerne dahinterkommen, was Richard in seinem Zimmer mit der vielen Zeit anfängt, ob ihn ähnliche Überlegungen umtreiben wie sie. Aber nach aller Wahrscheinlichkeit reicht die Kraft nicht zu mehr, als an die Decke zu starren und sich zu wünschen, daß alles auf einen Schlag besser wird: Es kommt zurück. Wenn ich nur fest daran glaube, kommt alles zurück. Alma, die nie eine Langschläferin war, zieht es bei weitem vor, den Tag sehr zeitig zu beginnen. Sie mag es, wenn sie das Haus und den Garten vier Stunden für sich hat. Mit all den Geräuschen, Gerüchen, Erinnerungen – an die Jahre, als sie in die Volksschule ging, wo auch den Kleinsten die Klassiker vorgelesen wurden: Die Menschen treiben aneinander vorbei, einer sieht nicht den Schmerz des anderen. Oder so ähnlich. Derlei Dinge kommen ihr morgens in den Sinn. Die Gedanken in der Früh tragen ziemlich weit, findet sie. Weiter als am Abend. Sie muß zugeben, daß dies eine der Ursachen ist, die sie davon abhält, Richard morgens aus dem Bett zu helfen, so schäbig ihr das manchmal vorkommt.
Sie setzt sich auf, schiebt die Beine unter der Decke hervor. Mit beiden Händen greift sie an die Bettkante, dort hockt sie, gekrümmt, den Kopf tief zwischen den Schultern, den Blick zum Schoß hin, über dem sich das Nachthemd spannt mit kleinen blauen Blumen. Nach einer Weile, während der sie sich die grauen Haare aus dem Gesicht gestrichen hat, nimmt sie den Morgenmantel vom Sessel, schlüpft hinein und tritt zum Fenster, das sie öffnet. Zwei Vögel queren den wie mit Rauch verhangenen Himmel nach Westen, dem Tag voran. Alma schaut ihnen hinterher. Dann senkt sie den Blick in einem Bogen hinunter in den Garten zum Bienenhaus, dorthin, wo sie in einer Stunde mit der Arbeit beginnen will. Die Wettervorhersage hat Besserung versprochen an allen Fronten. Die Helligkeit nimmt langsam zu. Die stellenweise von der Sonne fast schwarzen Bretter, aus denen das Bienenhaus gefertigt ist, haben sich während der Nacht zusätzlich mit Dunkelheit vollgesogen. Doch der blaßtürkise Fensterladen neben der Tür und die Flechten auf den Dachziegeln schimmern bereits in einem wasserhellen Licht, das im Bereich der Baumkronen weiter an Farbe verliert. Dann wieder das Bienenhaus, ganz plump, starr unter dem Rascheln des ausgreifenden Astes, die Seitenansicht in Pi-Form gezimmert, ein wenig irrational wie die Zahl. Alma denkt, daß dieser kleine Schuppen mit den sechs Völkern eine stets sich erneuernde Arbeit für Wochen und Monate bereithält: Schon erstaunlich.
Gestern in der Imkerzeitung der neueste Stand zum Thema Schwärmverhinderung.
Aber die verdeckelten Weiselzellen an den betroffenen Stöcken sind bereits ausgebrochen, das hat nicht viel gebracht. Weiters werden nur Gewaltmethoden empfohlen. Die Königin töten. Die Königin einsperren, entweder im Stock oder durch ein Absperrgitter vor dem Flugloch. Lauter Vorschläge, die seit Jahren jeder macht, die aber zu der Zeit, als Alma die Bienenzucht erlernte, nie erwähnt wurden. Damals hatte Alma auch jahrelang kaum einen Schwarm, und es hieß, es gebe Bienen, deren Schwarmtrieb gering ist, weil ihnen die Veranlagung fehlt.
Diese Bienen hätte Alma gerne zurück.
Sie steht jetzt im Bad und bürstet die Zähne, wäscht sich Hände und Gesicht mit kaltem Wasser, frisiert sich. In Betrachtung der dünnen Morgenfarben auf ihren Lippen muß sie daran denken, daß die Art, wie sie sich als junge Frau fühlte, bei der Arbeit mit den Bienen erhalten geblieben ist. Wenn sie dagegen im Spiegel ihr Gesicht ansieht, läßt sie innerlich immer ein wenig den Kopf hängen, und kein Gedanke kann sich dann gegen das Erstaunen behaupten, daß von der jungen Frau, die Alma einmal war, zwischen den Furchen und Runzeln kaum etwas zu erkennen ist. Auf Fotos schon, interessanterweise. Wenn sie ganz bestimmte Fotos zu einer Strecke nebeneinanderlegt, wirkt es wie die Dokumentation einer allmählich fortschreitenden Baustelle. Abends 17 Uhr: Klick, klick, klick. Aber vor dem Spiegel? Nichts. Vor dem Spiegel? Das soll ich sein? Aber ja. Ja ja ja. Schau sich das einer an. Also schön: Vor dem Spiegel, da muß sie klein beigeben. Da beschleicht sie ein tristes
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