Evernight Bd. 2 Tochter der Dämmerung
gestartet war, gab es keine Chance, mich auf halbem Wege umzudrehen. Einer meiner schlammbedeckten Schuhe stieß heftig gegen eine Scheibe, und ich keuchte vor Schreck, aber das Glas hielt. Es gelang mir, mich hinabgleiten zu lassen, und ich sank auf den Boden.
»Okay«, flüsterte ich, während ich auf Mrs. Bethanys Webteppich lag, die Beine noch immer über dem Kopf auf dem Fensterbrett, tropfnass vom Regen, »das war noch die leichteste Übung.«
Mrs. Bethanys Haus sah aus wie sie selber, fühlte sich an wie sie und roch sogar nach ihr - kräftig, ja fast beißend nach Lavendel. Ich stellte fest, dass ich in ihrem Schlafzimmer gelandet war, woraufhin ich mir noch mehr wie ein Eindringling vorkam. Obwohl ich wusste, dass Mrs. Bethany nach Boston gereist war, um »potenzielle Schüler« zu treffen, kam ich nicht gegen das Gefühl an, dass sie mich jeden Moment erwischen könnte. Ich hatte entsetzliche Angst davor, ertappt zu werden. Ich war schon drauf und dran, mich in mich selbst zurückzuziehen, so wie ich es immer tat, wenn ich mich vor irgendetwas fürchtete.
Doch dann dachte ich an Lucas, den Jungen, den ich liebte - und den ich verloren hatte. Er würde mich nicht so verschreckt sehen wollen. Er hatte immer gewollt, dass ich stark bin. Die Erinnerung an ihn machte mir Mut, und ich riss mich zusammen und machte mich an die Arbeit.
Zuerst das Wichtigste: Ich zog meine schmutzigen Schuhe aus, damit ich nicht noch mehr Schlamm ins Haus schleppte. Auch meinen Regenmantel zog ich aus und hängte ihn an einen Türknauf, damit das Wasser nicht überall hintropfte. Dann ging ich ins Badezimmer und schnappte mir eine Handvoll Kosmetiktücher, um den Dreck wegzuputzen, den ich bereits hereingebracht hatte, und um meine Schuhe zu säubern. Sicherheitshalber verstaute ich die Tücher danach in der Tasche meines Regenmantels, um sie irgendwo anders zu entsorgen. Wenn jemand paranoid genug war, seinen eigenen Müll zu durchwühlen, um nach Spuren eines Einbrechers zu suchen, dann war das Mrs. Bethany.
Eigentlich war es erstaunlich, dass sie freiwillig hier wohnte, dachte ich. Die Evernight-Akademie war prachtvoll, geradezu imposant mit all den Steintürmen und Gargoyle-Figuren - ganz und gar ihr Stil. Und dieser Ort hier war kaum besser als ein Landhaus. Andererseits hatte sie hier ihre Privatsphäre. Ich konnte mir durchaus vorstellen, dass dieser Punkt Mrs. Bethany wichtiger als alles andere war.
Ihr Schreibtisch in der Ecke sah aus, als sollte ich dort anfangen. Ich setzte mich auf den Holzstuhl mit der harten Lehne, schob das Bild eines Mannes aus dem neunzehnten Jahrhundert in einem Silberrahmen beiseite und begann damit, mich durch die Papiere zu wühlen, die ich entdecken konnte.
Verehrter Mr. Reed,
wir haben die Bewerbung um die Aufnahme Ihres Sohnes Mitch erhalten und mit großem Interesse geprüft. Obgleich es sich bei ihm offenkundig um einen herausragenden Schüler und einen vielversprechenden jungen Mann handelt, müssen wir Ihnen zu unserem Bedauern mitteilen …
Ein menschlicher Schüler, der hierherkommen wollte - einer, den Mrs. Bethany abgelehnt hatte. Warum ließ sie es zu, dass einige Menschen die Evernight-Akademie besuchten, und schloss andere aus? Warum gestattete sie es überhaupt, dass Menschen in einer der wenigen Vampir-Bastionen, die übrig geblieben waren, Einzug hielten?
Sehr geehrter Mr. Nichols, verehrte Mrs. Nichols, wir haben die Bewerbung um die Aufnahme Ihrer Tochter Clementine erhalten und mit großem Interesse geprüft. Offenkundig handelt es sich bei ihr um eine außergewöhnliche Schülerin und eine vielversprechende junge Dame, und so können wir Ihnen zu unserer Freude mitteilen …
Wo lag der Unterschied zwischen Mitch und Clementine? Glücklicherweise führte mich Mrs. Bethanys gut organisiertes Ablagesystem geradewegs zu ihren Bewerbungsunterlagen, doch auch eine gründliche Durchsicht brachte keine Antworten. Beide hatten einen schwindelerregend guten Notendurchschnitt und Massen von außerschulischen Aktivitäten vorzuweisen. Während ich die Listen mit ihren Erfolgen durchging, kam ich mir wie die größte Versagerin der Welt vor. Auf den Fotos sahen sie beide eigentlich ganz normal aus, nicht toll, aber auch nicht hässlich, weder fett noch dünn, einfach ganz durchschnittlich. Sie stammten beide aus Virginia - Mitch lebte in einem Wohnkomplex in Arlington, Clementine in einem alten Landhaus -, aber ich wusste, dass sie beide stinkreich sein mussten, wenn sie auch nur
Weitere Kostenlose Bücher