Evernight Bd. 2 Tochter der Dämmerung
sie sofort auf all ihre Fragen Antworten bekommen würden. Noch ehe ich das erste vertraute Gesicht gesehen hatte - Ranulf, der über tausend Jahre alt war und sich in der modernen Zeit überhaupt nicht zurechtfand -, wusste ich, wer die Schüler dieser Gruppe waren. Es waren die Verlorenen, die ältesten Vampire. Sie machten niemandem Ärger; sie hielten sich im Hintergrund, lernten, hörten zu und versuchten, die Jahrhunderte, die sie verpasst hatten, aufzuholen.
Letztes Jahr hatte Lucas sich unter sie gemischt. Ich erinnerte mich daran, wie er in seinem langen, schwarzen Mantel aus dem Nebel getreten war. Obwohl ich es besser wusste, musterte ich das Gesicht eines jeden Schülers, der zu Fuß ankam, und wünschte mir, ich könnte das von Lucas zwischen ihnen entdecken.
Zur Frühstückszeit fuhren die ersten Autos vor. Ich sah von einem Flur im etwas höher gelegenen Klassentrakt aus zu und konnte die Embleme auf den Kühlerhauben erkennen: Jaguar, Lexus, Bentley. Es gab kleine italienische Sportwagen und Geländewagen, die so geräumig waren, dass die Sportautos darin hätten parken können. Ich wusste, dass diese Fahrzeuge zu den menschlichen Schülern gehörten, denn keiner von ihnen kam allein. Die meisten wurden von ihren Eltern begleitet, und oft waren kleinere Brüder und Schwestern auf der Fahrt dabei gewesen. Ich erkannte sogar Clementine Nichols mit ihrem hellbraunen Pferdeschwanz und Sommersprossen auf der Nase. Zu meiner Überraschung begrüßte Mrs. Bethany die meisten Schüler auf dem Hof; huldvoll streckte sie ihnen die Hand entgegen wie eine Königin, die Höflinge in Empfang nahm. Anscheinend wollte sie mit den Eltern plaudern, und sie lächelte sie warm an, als ob sich hier eine Freundschaft fürs Leben anbahnte. Ich wusste, dass sie nur schauspielerte, aber ich musste es ihr lassen - sie war gut. Die menschlichen Schüler reagierten alle gleich: Je länger sie im Hof herumhingen und zu den bedrohlichen Steintürmen der Evernight-Akademie hinaufstarrten, umso mehr verblasste ihr Lächeln.
»Da steckst du ja.«
Ich löste den Blick von der Szene unten und entdeckte meinen Vater, der sich für diesen Anlass früh aus dem Bett gequält hatte. Er trug Anzug und Krawatte, wie es sich für einen Lehrer hier gehörte, doch sein zerzaustes, dunkelrotes Haar verriet mehr über seine wahre Persönlichkeit. »Ja«, antwortete ich und lächelte ihn an. »Ich schätze, ich wollte sehen, was los ist.«
»Na, wartest du auf deine Freunde?« Die Augen meines Vaters blitzten, als er sich neben mich stellte und durchs Fenster hinausspähte. »Oder hältst du nach neuen Jungs Ausschau?«
»Dad!«
»Schon gut, schon gut.« Abwehrend hob er die Hände. »Aber du scheinst, was das angeht, ein bisschen entspannter zu sein als letztes Jahr.«
»Was ja auch nicht allzu schwer ist, oder?«
»Da hast du wohl recht«, antwortete Dad, und wir mussten beide lachen. Letztes Jahr war ich so gegen Evernight voreingenommen gewesen, dass ich am Ankunftstag der Schüler versucht hatte, wegzulaufen. Inzwischen schien mir das eine Ewigkeit her zu sein. »Hey, falls du was frühstücken willst: Ich glaube, deine Mutter hat das Waffeleisen angeworfen und wartet nur auf ihren Einsatz.«
Auch wenn meine Eltern selbst es dabei beließen, von den Blutkonserven zu trinken, die die Schule der Allgemeinheit der Vampire zur Verfügung stellte, achteten sie bei mir doch immer darauf, dass ich auch genug »richtige« Nahrung zu mir nahm, die ich noch immer benötigte. »Komm gleich nach, in Ordnung?«
»In Ordnung.« Er ließ einen Moment lang seine Hände auf meinen Schultern ruhen, ehe er sich zum Gehen wandte.
Ich warf einen letzten Blick in den Hof. Noch immer wanderten vereinzelt Familien umher oder schleppten Koffer ins Haus, aber inzwischen hatte die dritte und letzte Ankunftswelle eingesetzt.
Diese letzten Schüler kamen allein in Leihwagen. Ich entdeckte einige Taxis, doch die meisten reisten in Mietautos oder Limousinen an. Die aussteigenden Schüler trugen allesamt schon ihre maßgeschneiderten Schuluniformen, und ihre Haare waren zurückgekämmt und glänzten. Keiner von ihnen hatte Koffer dabei; diese Schüler hatten ihre vielen Besitztümer, in Kisten und Truhen verpackt, vorausgeschickt, welche seit nunmehr zwei Wochen in Evernight angeliefert wurden. Ich freute mich wenig, als ich Courtney entdeckte, eine der Schülerinnen, die ich am allerwenigsten ausstehen konnte. Mit übertriebener Geste winkte sie den anderen
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