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Falkengrund, Schule des Okkulten - Episode 16 Ikezukuri

Falkengrund, Schule des Okkulten - Episode 16 Ikezukuri

Titel: Falkengrund, Schule des Okkulten - Episode 16 Ikezukuri Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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beiden Eltern hinauf.
    Nichts war in Ordnung.
    Überhaupt nichts.
    Kaori trug das Kleid aus weißem Taft, von dem sie eben gesprochen hatten. Es war so prachtvoll, dass es als Brautkleid hätte durchgehen können – asymmetrisch geschnitten, bodenlang und trägerlos, mit einer Schar winziger Brillanten, die wie ein Kometenschweif über die Brustpartie hinwegzogen. Doch das seidig glänzende Weiß war besudelt.
    Das Mädchen hatte die Hände vor die Brust gedrückt, hoch über dem Ansatz des Kleides. Von der Stelle, wo ihre Handgelenke ihren schmalen, weich konturierten Hals berührten, floss in dicken dunklen Wogen eine rote Flüssigkeit herab. Ihre kleinen Brüste ertranken darin, und der Stoff sog sich damit voll.
    Blut! Kaori blutete aus den Handgelenken!
    Mit einem zitternden Lächeln auf den geschminkten Lippen riss sie die Arme nach oben und drehte die Handflächen nach vorn, so dass ihre Eltern die tiefen Schnittwunden sehen konnten, die ihre Handwurzeln verunstalteten. Mit jedem Herzschlag wurde Blut aus ihrem Körper gepumpt, rann an ihren Armen hinab und tropfte zähflüssig von ihren Ellbogen auf das Kleid und auf den Fußboden.
    Himmel – das Blut war so dunkel, wenn es hervorquoll!
    Die Neunzehnjährige schwankte und kippte gegen das Geländer vor ihrer Zimmertür. Sie lehnte sich dagegen und fuhr sich mit den Handgelenken über das Kleid, wie ein abstrakter Künstler, der rote Farbe auf eine weiße Leinwand schmierte. „Seht her“, gurgelte sie. „Jetzt haben wir alle unseren Willen. Ihr habt euer weißes Kleid und ich habe … mein rotes …“ Ihre melodische Stimme verwandelte sich in ein Krächzen, ihre Beine gaben nach, und sie stürzte zu Boden. Zuerst wurde ihr Oberkörper noch von dem Geländer gestützt und blieb für einen Moment aufrecht.
    Yôshi Sanagi stieß seine Frau zur Seite, die den Weg zur Treppe versperrte, und hastete hinauf. Er glitt in den Strümpfen auf den Holzstufen aus, schlug sich den Arm an und rutschte zwei Stufen nach unten. Als er sich wieder aufgerappelt und Kaori erreicht hatte, war sie ohnmächtig zur Seite gefallen. Das dumpfe, unpassende Geräusch, das der Kopf seiner einzigen Tochter machte, als er auf den Fußboden prallte, würde er sein Leben lang nicht mehr vergessen.

3
    Deutschland, 2004
    Jaqueline Beck ging gezwungen langsam durch einen jener langen, hellen Flure, wie man sie in nahezu jedem Krankenhaus der Welt antraf. Eigentlich wollte sie rennen – das bewirkten diese leeren, schlauch- und tunnelartigen Korridore –, aber sie beherrschte sich. Sie beachtete die Bilder, die an den Wänden hingen, versuchte sie Epochen und Stilrichtungen zuzuordnen. Sie las alle Hinweise und Bitten, merkte sich die Gottesdienstzeiten und die Zimmer, in denen geraucht werden durfte. All das interessierte sie nicht, aber es beschäftigte ihren Kopf und half ihr, Ruhe zu bewahren.
    Als sie die Hand jedoch auf der Klinke des Zimmers Nummer 38 hatte, war ihre schwer erkämpfte Gelassenheit weitgehend verschwunden.
    Sie hatte nicht damit gerechnet, dass Madoka ausgerechnet nach ihr verlangen würde!
    Von den Bewohnern Falkengrunds waren die Studentin Melanie Kufleitner und die Dozentin Margarete Maus die ersten gewesen, die das schwerverletzte Mädchen besucht hatten. Die beiden Frauen waren zweimal hier gewesen, ohne dass Madoka zu sich gekommen war. Später hatte auch der Rektor Werner Hotten einen Besuch gemacht und die Japanerin bei Bewusstsein angetroffen. Auch Isabel Holzapfel, die Gothicfrau, die auf Falkengrund Madokas Zimmergenossin war, hatte ein paar Worte mit ihr wechseln können. Die Ärzte versicherten, sie sei außer Lebensgefahr, doch ihr Körper befinde sich nach wie vor in einem schwierigen Zustand, und es war weder abzusehen, wie lange der Genesungsprozess in Anspruch nehmen würde, noch, welche Schäden zurückbleiben würden.
    Jaqueline hatte Isabels Berichte mit mäßigem Interesse verfolgt. Bis die bleiche Schwarzhaarige plötzlich in ihre Richtung blickte.
    „Madoka wünscht sich, dich zu sehen“, hatte Isabel gesagt.
    Jaqueline war drauf und dran gewesen, das alberne Spiel zu spielen, sich nach beiden Seiten umzusehen, um dann fragend mit dem Finger auf sich zu zeigen. Doch sie unterließ es. „Gut“, erwiderte sie leise, ohne den anderen zu verraten, wie überrascht sie war. Jaqueline Beck war eine Frau, die für ihr Leben gern nachdachte und kombinierte. Die ganze Nacht über lag sie wach und überlegte. War es möglich, dass Isabel wusste,

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