Falkengrund, Schule des Okkulten - Episode 16 Ikezukuri
Gefangenen.“ Aus dem Mund einer anderen hätte es ironisch geklungen. Jeder hier war geneigt, ständig Scherze dieser Art zu machen, denn es erleichterte den Aufenthalt in einer geschlossenen Abteilung, aber sie meinte es offenbar ernst. Sie wollte keine Gefangene sein.
„Insassen“, schlug Sam vor. „Das Wort schließt beides ein – dann müssen wir uns nicht streiten.“ Jemand lachte kurz auf, dann wurde es still zwischen ihnen.
Sam verließ den Fernsehraum durch die offene Tür. Der Flur breitete sich leer und weiß zu beiden Seiten hin aus. Dieser Gang war L-förmig. Wenn man um die Ecke bog, kam man zu den beiden Schlafräumen, einer für die Jungen, einer für die Mädchen. Ein Stück hinter den Schlafräumen folgte das Bad, das Dienstzimmer, am Schluss noch das Wäschelager, und dann endete der Korridor ganz abrupt mit einer Wand. Ein Rollbild im chinesischen Stil zierte sie. Es hing nicht an einem Nagel, sondern war mit Klebeband an die Wand geheftet. Nägel konnte man herausziehen und woanders wieder hineinstecken …
Am anderen Ende des Gangs befand sich die einzige Tür, durch die man diese Station verlassen konnte. Sam legte die wenigen Meter bis zu dieser Tür zurück und untersuchte sie, obwohl er sie gut kannte. Sie war aus massivem Stahl und verfügte über keine Klinke. Es gab auch kein Fenster, nicht einmal ein winziges Guckloch aus Panzerglas. Und kein Schlüsselloch. Dafür war neben der Tür auf Hüfthöhe ein Kartenleser eingebaut, ein waagrechter weißer Kunststoffschlitz, wie man ihn von den Geldautomaten in den Banken her kannte. Jeder der Glotzer war mit einer Chipkarte ausgestattet, mit der sich diese Tür öffnen ließ. Dazu kam der Arzt, Dr. Andô.
Natürlich hatte man den neun Patienten (Insassen!) keine Chipkarten gegeben. Eine Tastatur für die Eingabe eines Zahlencodes wäre Sam lieber gewesen – so was konnte man herausbekommen, wenn man Phantasie und Zeit hatte. Ein Kartenleser war nicht zu überlisten.
Inzwischen hatten sich die meisten der anderen hinter Sam eingefunden und verfolgten seine Aktivitäten. „Vielleicht wollen sie uns auch nur testen“, meinte der hagere Junge, in dessen herabhängender Hand noch der halb gelesene Manga lag. „Beobachten, wie wir uns verhalten, wenn wir uns allein fühlen.“
„Beobachten?“, stöhnte Sam. „Mit abgeschalteten Kameras? Dazu müssten sie durch die Wände sehen können.“ Er versuchte mühsam, seine Finger zwischen Tür und Rahmen zu bekommen, für den höchst unwahrscheinlichen Fall, dass die Tür, die nach innen aufging, nicht verriegelt war, aber es war sinnlos. Da gab es höchstens ein, zwei Millimeter Freiraum. Um dort hineinzukommen, hätte man einen spitzen Gegenstand haben müssen. Also genau das, was es auf dieser Station unter Garantie nicht gab. Nicht einmal mit den Fingernägeln konnte man darunter kommen. Ihnen allen wurden jede Woche die Nägel kurz geschnitten, damit sie sich damit nicht verletzen konnten. Sams Finger rochen nach Metall, als er die Bemühungen aufgab. Wenn man die Chipkarte einschob, wurde die Tür von einem Motor automatisch geöffnet. Ohne Karte war sie nichts anderes als eine Wand. Eine Wand, getarnt als Tür.
„Ich bleibe dabei“, sagte Kaori. „Da ist etwas passiert. Da draußen. Es hat vielleicht gar nichts mit uns zu tun.“
„Der Atomkrieg“, witzelte eines der Mädchen. „Wie lange können wir hier unten überleben?“
„Jedenfalls können wir für Nachwuchs sorgen, wenn die Menschen da draußen zu Buddhas werden.“ Ein Junge betrachtete grinsend eines der Mädchen nach dem anderen. Es war gar nicht schwer zu erraten, was jetzt in seinem Kopf vorging.
„Ihr scheint euch keine großen Sorgen zu machen.“ Kaori rieb nervös ihre Handgelenke und verzog dabei das Gesicht, weil sie offenbar noch schmerzten. Ihr Selbstmordversuch lag noch keine zwei Monate zurück. Seit fünf Wochen befand sie sich in der Behandlung von Dr. Fumio Andô.
Sie waren alle depressiv. Hatten einen oder mehrere Suizidversuche hinter sich. Sie waren zwischen siebzehn und zweiundzwanzig Jahre jung, orientierungslos, sahen ständig oder zeitweise keinen Sinn in ihrem Leben. Und noch etwas verband sie. Ihre Eltern waren reich genug, um sich die nicht ganz billigen Therapien des Dr. Andô leisten zu können, die keine der Krankenkassen übernahm.
Es waren tatsächlich eigenwillige Behandlungsmethoden, denen sie sich hier unterzogen. Manchmal hatten sie den Eindruck, es nicht mit ausgereiften
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