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Falkengrund, Schule des Okkulten - Episode 4 Vor dem Hahnenschrei

Falkengrund, Schule des Okkulten - Episode 4 Vor dem Hahnenschrei

Titel: Falkengrund, Schule des Okkulten - Episode 4 Vor dem Hahnenschrei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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sie wollten ihre Milch loswerden. Was für eine merkwürdige Apparatur der menschliche Körper doch war! Vor ihrer ersten Schwangerschaft war ihr nicht bewusst gewesen, was so ein Körper alles tat, ohne dass man ihm den Befehl dazu gab. Jetzt kam es ihr manchmal vor, als habe er ein Eigenleben. Er kümmerte sich eindeutig mehr um das kleine Wesen, das er vor ein paar Monaten noch in sich beherbergt hatte, als um die Person, der er eigentlich gehörte.
    Seltsamerweise wurde das peinvolle Ziehen gerade in dem Augenblick stärker, als Officer Lyanne Marsh die Farm sah. Ihr Fuß geriet irgendwie zwischen Bremse und Gaspedal, und mit einem Rucken, als wolle ein wilder Mustang sie abwerfen, erstarb der Motor.
    Die Scheinwerfer trafen ein schwarzes Ruinenfeld, von dem schwerer dunkler Rauch aufstieg und in dem Dutzende hasserfüllter, tiefroter Augen glühten. Das Feuer war heruntergebrannt und hatte nicht viel von der Farm übriggelassen.
    Das Haus hatte kein Dach mehr. Nur glimmende schwarze Balken ragten in die Höhe, und während die Polizistin die Augen zusammenkniff, um die Silhouette des Hauses vor dem Nachthimmel deutlicher zu erkennen, brach der längste der Balken ab, stürzte in den Mittelteil des Hauses und fiel krachend in die Trümmer. Eine Lohe aus Funken stieg in die Höhe, und für einen Moment sah es aus, als entstehe dort im Zentrum des Farmhauses eine neue, riesige Flamme, die es vollends ausradieren würde. Eine Seitenwand des Hauses stand noch, auch ein Teil vom Fußboden des oberen Stockwerks war noch intakt. Und doch konnte sie bereits aus der Entfernung sicher sagen, dass kein Feuerwehrmann je einen Fuß darauf setzen würde. Vermutlich würde das Haus in der nächsten halben Stunde vollends in sich zusammenstürzen.
    Vom Hühnerstall war nicht mehr viel zu erkennen. Das Feuer musste durch Funkenflug darauf übergegriffen haben. Das Dach – ein Flickenteppich aus Blech – war heruntergebrochen und hatte die Holzwände unter sich begraben … die Wände und das Vieh zwischen ihnen. An einigen Stellen stachen schwarze Balken oder Metallteile unter dem Dach hervor, und im vorderen Drittel war es abgeknickt und hatte einen langen Riss bekommen. Der Riss stieß Rauchwolken aus wie der Mund eines riesigen Rauchers.
    Links neben dem Stall, etwas vom Weg zurückgesetzt, standen ein alter Traktor und andere Geräte. Dort schien etwas zu flattern, vielleicht ein einzelnes Huhn, das mit dem Leben davongekommen war.
    Lyanne fluchte, wie sie schon lange nicht mehr geflucht hatte.
    „Ganz deiner Meinung“, reagierte Marc, und Lyanne zuckte zusammen. Sie hatte nicht mehr daran gedacht, dass die Funkverbindung nach wie vor bestand. „Was siehst du?“, erkundigte sich ihr Kollege.
    „Taybens Farm ist hinüber“, sagte sie und fand ihre eigene Formulierung mehr als unpassend. Sie wollte beschreiben, was sie wahrnahm, am besten so, wie sie es auf der Polizeischule gelernt hatte, aber die richtigen Worte standen einfach nicht zur Verfügung. Das Bewusstsein, dass hier sehr wahrscheinlich in der letzten Stunde eine Handvoll Menschen und einige Tausend Broiler den Flammentod gestorben waren, veränderte etwas in ihr, schaltete Teile ihres Gehirns einfach ab. Eine Art Stromausfall. Ein Stück Lyanne Marsh ging offline.
    „Brauchst du Hilfe?“, fragte Marc, obwohl er klang, als ob eher er welche benötigte.
    „Es ist zu spät für Hilfe“, erwiderte sie. „Ich geh jetzt raus und werfe aus der Nähe einen Blick drauf.“
    „Was ist da los?“, versuchte ihr Gesprächspartner es noch einmal. „Brennt es auf der Farm?“ Und als sie nicht antwortete, fügte er hinzu: „Die Jungs von der Feuerwehr sind unterwegs. Ich denke, sie brauchen keine zehn Minuten. Geh bloß kein Risiko ein, hörst du?“
    „Ich unterbreche jetzt die Verbindung“, sagte Lyanne. Sie sagte es sanft, aber bestimmt. Manchmal konnte sie so sein. Wenn etwas sie überwältigte, wurde sie wortkarg und bekam Schwierigkeiten, klar zu denken. Aber gleichzeitig wuchs eine Entschlossenheit in ihr, auf die sie sonst nicht zugreifen konnte. Sie hatte schon männliche Officer beim Anblick eines Schwerverletzten oder Toten heulen sehen. Manche begannen zu kichern, wenn sie von der Situation überfordert wurden, und konnten gar nicht mehr damit aufhören. Sie war anders. Eine Maschinerie in ihrem Inneren lief an und trieb sie vorwärts. Alles wurde viel einfacher.
    Vielleicht war es das, was man Kühnheit nannte. Dass man an den Autopiloten übergab

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