Fallon, Jennifer - Gezeitenstern Saga 1 - Der unsterbliche Prinz
Warlock. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was in diesem Kerker einen solch unerwarteten Ausbruch von Reinlichkeit auslösen sollte.
»Es kommt ein wichtiger Besucher«, informierte ihn Goran und schickte sich an zu gehen. »Zu unserem Gezeitenfürsten hier. Ein wirklich wichtiger Mann ist das. Dem wollen wir ja den Anblick von euch stinkenden Dreckspatzen nicht zumuten, was?«
»Wer denn?«, fragte Warlock neugierig. »Was für ein wichtiger Mann?«
»Declan Hawkes«, rief Goran über die Schulter, »der Erste Spion des Königs höchstpersönlich.«
Mit dieser Ankündigung ging der Wächter davon, summte unmelodisch vor sich hin und nahm den flackernden Fackelschein und seinen strengen Geruch mit. Seine schlurfenden Schritte verhallten, und Warlock blieb allein in himmlischer Stille.
Der Erste Spion des Königs beehrt die Gefangenen im Rückfälligentrakt mit seinem Besuch.
Warlock saß auf seiner Pritsche und kratzte sich nachdenklich hinter dem Ohr. Was war so wichtig, dass ein bedeutender Mann wie Declan Hawkes sich persönlich in die Niederungen des Gefängnisses von Lebec begab?
Durch die Gitterstäbe spähte er hinüber zu dem bewusstlosen Suzerain jenseits des Gangs und glaubte zu wissen, was der Grund war.
3
Die Ankunft des Ersten Spions, des obersten Beamten des königlichen Geheimdienstes von Glaeba, war für das Gefängnis von Lebec ein außerordentliches Ereignis, wenn auch kein sonderlich willkommenes. Obwohl er hier in Lebec keine Befehlsgewalt besaß – zumindest nicht offiziell –, war Declan Hawkes Auge und Ohr des Königs von Glaeba, und das machte ihn zu einem Mann, dem man lieber mit Vorsicht begegnete.
Aus dem Fenster seines Amtszimmers, das auf den düsteren Gefängnishof hinausging, sah der Kerkermeister seinen hohen Besucher im strömenden Regen vom Pferd steigen. Er nagte an seiner Unterlippe und fragte sich, was diese äußerst beunruhigende Wendung des Geschehens zu bedeuten hatte.
Will er mich persönlich für eine missglückte Hinrichtung zur Verantwortung ziehen?
Dass sein Bericht über diese missliche Angelegenheit Ärger nach sich ziehen würde, hätte er erwartet. Er hatte mit einer Untersuchung gerechnet, vielleicht sogar mit einer Rüge, damit der caelische Gesandte zufriedengestellt war – aber der Erste Spion des Königs hier in seinem Gefängnis …
Ob er meine Abdankung will? Oder noch Schlimmeres?
Auf seiner Stirn bildeten sich Schweißperlen. Ihm waren Gerüchte von Männern zu Ohren gekommen, die das Missfallen des Ersten Spions erregt hatten und nie wieder gesehen wurden. Er kannte auch die anderen, noch beunruhigenderen Gerüchte über diesen Mann aus einfachsten Verhältnissen, den Sohn einer Hure, der vor fünf Jahren mit gerade mal fünfundzwanzig Jahren zum obersten Beamten des königlichen Geheimdienstes ernannt worden war, weil sein Vorgänger Daly Bridgeman in den Ruhestand ging. Als der Beschluss verkündet wurde, ihn in die Reihen der königlichen Justizbeamten aufzunehmen, hatte alle Welt am Verstand des Königs gezweifelt. Aber nachdem Declan Hawkes es trotz seiner dubiosen Herkunft erst einmal geschafft hatte, sich zum Ersten Spion ernennen zu lassen, zweifelte bald niemand mehr daran, dass er alle nötigen Fähigkeiten für dieses Amt mitbrachte – er war rücksichtslos, effizient und hatte keine Skrupel, Umstände oder Personen zu beseitigen, die er für eine Bedrohung der Souveränität seines Landes hielt.
Der Erste Spion verschwand aus seinem Blickfeld, als er das Gebäude betrat. Der Kerkermeister wandte sich vom regennassen Fenster ab und zwang sich, dem dicken Kloß in seiner Kehle zum Trotz den letzten Schluck aus seiner Teetasse zu trinken. Dann setzte er die Tasse ab – das Porzellan klirrte verräterisch – und sah sich ein letztes Mal prüfend in seinem Amtszimmer um, um ganz sicherzugehen, dass es hier nichts mehr gab, was dem Ersten Spion womöglich ins Auge fallen konnte. Was genau das sein könnte, davon hatte der Kerkermeister nicht die leiseste Ahnung. Und das machte Hawkes so gefährlich. Man wusste einfach nie, worauf er gerade aus war.
Obwohl er es erwartet hatte, zuckte der Kerkermeister vor Schreck zusammen, als es einige Minuten später an seiner Tür klopfte. Er setzte sich und stand dann gleich wieder auf. Lieber dem Mann auf gleicher Höhe begegnen, als von seinem Stuhl zu ihm aufschauen zu müssen.
Noch bevor er die Aufforderung zum Eintreten geben konnte, öffnete sich die Tür.
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