Fallon, Jennifer - Gezeitenstern Saga 1 - Der unsterbliche Prinz
mich findet. Ich bin im Palast von Lebec abgestiegen. Bei meiner alten Freundin Arkady.«
Hawkes verließ das Amtszimmer und ließ den Rest ungesagt.
Der Kerkermeister sank auf seinem Stuhl zusammen. Jeder hier in Lebec wusste, wer Arkady Morel war. Bei den Gezeiten, ganz Glaeba kannte sie.
Nur hieß sie inzwischen nicht mehr Arkady Morel. Heutzutage kannte man sie als Lady Arkady Desean.
Die Fürstin von Lebec.
4
Die Abendgesellschaften im Palast von Lebec waren immer großartige gesellschaftliche Ereignisse. Das exquisite Dekor, das traumhafte Menü, die tadellose Bedienung, die anregende Konversation und das Lügengeflecht, das dort Tag für Tag gesponnen wurde, stellten alles in den Schatten, was man sonst auf Lustbarkeiten des Hochadels von Glaeba geboten bekam.
Die Gastgeberin, Lady Desean, Fürstin von Lebec – ihre engsten Freunde nannten sie Arkady, und ihre Kollegen an der Universität kannten sie als Dr. phil. Desean –, führte den Vorsitz über die fürstliche Tafel mit jener ungezwungenen Leichtigkeit und Raffinesse, die nur lange Erfahrung verleiht. Mit ihren hohen glaebischen Wangenknochen, dem üppigen dunklen Haar und ihren ungewöhnlich saphirblauen Augen war sie das erlesenste Stück der fürstlichen Kronjuwelen, die strahlende Siegestrophäe ihres Gemahls. Doch ihre nach außen hin so vollkommene Ehe war eigentlich eine Farce, wenn auch sehr überzeugend gespielt. Arkady wusste, dass man sie hinter ihrem Rücken die Eisfürstin nannte, aber das machte ihr nichts aus. Sie war sehr gut darin, abfällige Bemerkungen und neiderfüllte Blicke einfach von sich abprallen zu lassen.
Die adelige Gesellschaft von Glaeba war beileibe nichts für schwache Nerven.
Etwa zwanzig Gäste hatten sich heute Abend unter der hohen Decke des langen Bankettsaals eingefunden, allesamt in erster Linie Stellans Freunde, nicht ihre – wenn man sie denn als Freunde bezeichnen wollte. Viele von ihnen waren eher Bekannte; mit einem Großteil der Gäste pflegte der Fürst wichtige geschäftliche und diplomatische Beziehungen. Andere waren hier, um sich bei ihrem Landesherren einzuschmeicheln, weil sie von ihm eine bestimmte Gunstbezeugung erhofften. Einer oder zwei, wie der Poet Etienne Sorell, der in der Mitte der langen Tafel saß und gerade die alte Lady Fardinger bezirzte, waren hier, weil sie die fesselnde Konversation gewährleisten konnten, für welche die Abendgesellschaften am Fürstenhof von Lebec so berühmt waren.
Ein paar Plätze weiter rechts von Etienne thronte ein weiterer Stammgast: Lady Tilly Ponting, selbst ernannte Wahrsagerin der Reichen und Berühmten von Lebec. Von einer etwas maßlosen Persönlichkeit, hatte die gute Witwe Ponting eine Vorliebe für hanebüchene Farbkombinationen und war immer für einen Lacher gut. Wenn man so reich war wie sie, konnte einem Verrücktheit noch als Exzentrik durchgehen. Außerdem besaß sie die spezielle Gabe, unangenehme Pausen in der Tischkonversation mühelos mit irgendeiner hirnverbrannten, aber harmlosen Bemerkung zu überbrücken, und dieses Talent machte ihre Anwesenheit bei gesellschaftlichen Anlässen wie diesem absolut unbezahlbar. Seit ihrem letzten Erscheinen bei Hof leuchtete ihr Haar in einem neuen, grellen Purpurton, und vorhin hatte sie sich erboten, nach dem Dessert für alle Anwesenden die Tarotkarten zu legen. Was bedeutete, dass die politischen Diskussionen sich auf ein Minimum beschränken würden – in Anbetracht der angespannten politischen Lage eine wirklich brillante Idee.
Andere Gäste, so wie der Mann, der neben Stellan saß – und über die Tischecke hinweg mit Kylia Debrell, der Nichte ihres Gemahls, flirtete –, waren aus ganz eigenen Gründen hier und damit viel gefährlicher als Tilly. Arkady beäugte ihn nachdenklich, wobei sie ihrer Sitznachbarin zur Rechten abwesend zunickte. Die Dame ließ sich lauthals über die wachsende Anzahl verwilderter Crasii aus, die ihren Herren davongelaufen waren, und dass man gegen diese Plage doch endlich etwas unternehmen müsse. Arkady nippte an ihrem Wein und betrachtete durch den Wald von Kristall und Tafelsilber, der die obere Hälfte der Tafel von der unteren trennte, den jungen Mann. Er musste ihren Blick gespürt haben, denn er sah unvermittelt auf und prostete ihr spöttisch mit seinem Weinglas zu, um sich dann wieder vollständig Lady Debrell zuzuwenden.
Arkady runzelte die Stirn. Jaxyn Aranville. Oberaufseher der fürstlichen Crasii-Zwinger. Entfernter Cousin des
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