Farben der Herzen
glaubte, dass das Stricken zu erlernen sie vielleicht ein wenig von ihrer Einsamkeit ablenken würde. Susannah hatte sie davon überzeugt, es zumindest zu versuchen. Zu ihrer eigenen Überraschung merkte Colette, dass sie sich auf die erste Stunde, die am folgenden Mittwoch stattfinden sollte, freute. Möglicherweise empfand sie so, weil man das Stricken gemeinhin mit der Vorstellung von Ruhe und Zufriedenheit verband. Sie konnte es praktisch vor sich sehen: Hochschwanger und in einem bequemen Sessel sitzend, strickte sie etwas für ihr Baby.
Bisher hatte sie noch niemandem davon erzählt. In einigen Monaten würde sich ihre Schwangerschaft jedoch nicht mehr verheimlichen lassen. Im Augenblick wusste Colette noch nicht, was sie tun würde, wenn das Kind erst einmal auf der Welt war. Sie wusste nicht, wo sie leben würde, und wusste vor allem nicht, ob sie Christian von seinem Kind erzählen sollte. Ohne einen Plan zu haben, hatte sie sich entschlossen, abzuwarten, was die Behörden aufgrund ihres anonymen Schreibens zu unternehmen gedachten. Sie vermutete, dass sie es durch die Nachrichten erfahren würde – wenn nicht, könnte sie noch immer Jenny im Büro anrufen. Die wäre sicherlich froh, von ihr zu hören – auch wenn sie in der letzten Zeit keinen Kontakt mehr gehabt hatten.
Im Blumenladen war an diesem Morgen die Hölle los gewesen – was jedoch im Hinblick auf den bevorstehenden Valentinstag keine Überraschung war. Susannahs Tochter Chrissie, die aus Oregon an die Universität von Washington gewechselt war, wollte an einem Nachmittag pro Woche den Laden übernehmen, damit Susannah und Colette zum Strickkurs gehen konnten. Denn auch für Chrissie brachte diese Regelung Vorteile. Sie wollte das Geschäftsleben kennenlernen und beweisen, dass sie eine verantwortungsvolle junge Frau war – und darüber hinaus konnte sie sich noch ein wenig dazuverdienen.
Im Laufe des Kurses sollten die Teilnehmerinnen einen Gebetsschal stricken, den Colette gern als Decke für ihr Baby verwenden wollte. Lydia hatte erklärt, dass der Gebetsschal für jemanden gestrickt werden sollte, der Beistand oder Trost gebrauchen konnte. Colette brauchte ganz sicher beides.
In der vergangenen Woche hatte Colette Chrissie im Blumenladen zum ersten Mal getroffen. Die junge Frau wirkte wie eine typische Studienanfängerin – mal selbstbewusst, mal unsicher. Sie sprudelte schier über vor natürlichem Charme, den sie im Geschäft geschickt einsetzen konnte. Chrissie hatte eine sehr innige Beziehung zu ihrer Mutter, und Colette beneidete sie darum. Das Verhältnis zu ihren eigenen Eltern war gut, obwohl es zwischen ihnen nie so unbekümmert zugegangen war wie zwischen Chrissie und Susannah.
Colette wünschte sich, ihre Eltern würden nicht so weit weg wohnen. Vor allem jetzt. Andererseits konnte es auch schwierig sein, wenn sie in der Nähe lebten. Colette hatte ihren Eltern bisher noch nicht von dem Baby erzählt. Wenn sie es getan hätte – da war sie sich sicher –, hätten sie bestimmt darauf bestanden, dass sie es Christian sagte. Und das konnte sie nicht. Jedenfalls im Moment noch nicht. Sie fühlte sich gefangen zwischen ihrer Vergangenheit und ihrer Zukunft, nicht in der Lage, auf dem neuen Weg, den sie eingeschlagen hatte, weiterzugehen.
Colette hatte ihren Eltern erklärt, dass sie in Seattle bleiben wollte, weil die Stadt ihr vertraut war, weil sie sich wohlfühlte und weil es ihr Zuhause war. Das stimmte – doch sie wollte auch bleiben, um herauszufinden, was mit Christian geschah.
Es war noch nicht dunkel, da es noch früh am Nachmittag war, doch gegen vier Uhr begannen die Schatten allmählich länger zu werden. Colette liebte es, das Treiben auf der Blossom Street zu beobachten, wenn die Straßenlaternen ansprangen und das Licht die Bürgersteige erleuchtete. Sie hatte gerade einen Trauerkranz zusammengestellt – in das Grün hatte sie weiße Nelken gesteckt und die Lücken zwischen den Blüten mit Zweigen der Shallon-Scheinbeere aufgefüllt, die wild in der Gegend wuchs –, als Susannah von einem Termin zurückkehrte.
“Wie ist es gelaufen?”, erkundigte Colette sich. Sie wusste, wie aufgeregt ihre Arbeitgeberin vor dem Treffen mit dem Direktor eines der größten privaten Beerdigungsunternehmen in Seattle gewesen war. Susannah hatte dem Unternehmen vor einiger Zeit ein Angebot unterbreitet: Der Vorschlag beinhaltete nicht nur Blumenarrangements für die Trauerfeier selbst, sondern darüber hinaus auch ein
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