Fey 03: Der Thron der Seherin
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Erst mehrere Jahre später, als er versuchte, anderen davon zu erzählen, faßte er die Erinnerung in Worte. Manche bezweifelten, daß er sich überhaupt erinnern konnte, andere wieder starrten ihn an, verblüfft über die Anschaulichkeit seiner Schilderung. Aber die Erinnerung war klar und deutlich, nicht nur eine Folge verschwommener Bilder, sondern eine Erfahrung, die er sich jederzeit ins Gedächtnis zurückrufen konnte, wenn er die Augen schloß und seine Gedanken in die Vergangenheit lenkte. Eine umgekehrte Vision. Keine andere seiner Erinnerungen war so klar, aber auch keine so wichtig. Abgesehen davon handelte es sich um seine allererste Erinnerung:
Das Zimmer war voller hellem Licht. Er öffnete die Augen und fühlte sich wie jemand, der plötzlich aus dichtem Nebel in die klare Luft hinaustritt. Eben noch hatte er nur aufgenommen, gefühlt, gelernt – jetzt fing er an, selbständig zu denken. Das Licht sammelte sich in der Nähe des Fensters, hundert winzige Punkte, die im Kreis tanzten. Der dicke Vorhangstoff war gerafft, als würde er von einer Hand zur Seite gehalten.
Er drehte den Kopf. Das war seine neueste Errungenschaft. Aber alles, was er sah, waren die Vorhänge über dem Kopfende seiner Wiege. Stimmen drangen aus dem Zimmer nebenan … die Stimme seiner Mutter, lieblich und vertraut, fast ein Teil seiner selbst. Und die Stimme eines Mannes … seines Vaters?
Seine Kinderfrau saß am Kamin, den Kopf in den Nacken gelegt, die Haube leicht verrutscht. Sie schnarchte leise rasselnd, ein Geräusch, das manchmal sogar die Stimmen übertönte. Über den Rand der Wiege hinweg konnte er ihr Gesicht kaum erkennen. Es war ein freundliches Gesicht mit angenehmen, faltigen Zügen, einer Stupsnase und einem breiten Mund. Ihre Augen waren geschlossen, die Nasenflügel weiteten sich bei jedem Atemzug. Er streckte die Hand nach ihr aus, aber seine Finger schlossen sich nur um den weichen Stoff der Decke.
Eine kühle, nach Regen und dem Fluß riechende Brise streichelte ihn. Ein Schatten zerteilte das Licht. Der Schatten hatte die Gestalt eines Mannes, aber er kroch dunkel und flach über die Wand. Er steckte den Daumen in den Mund, saugte daran und beobachtete den Schatten mit weit aufgerissenen Augen. Der Schatten glitt über den Wandteppich, den Kamin und fiel schließlich auf das Gesicht der Kinderfrau.
Er wimmerte, aber der Schatten drehte sich nicht um. Statt dessen bedeckte er das Gesicht der Kinderfrau ganz. Ihre Hände zuckten unmerklich, als wolle sie ihn wegwischen, dann fuhr sie zusammen, als träume sie. Ihre Augen blieben geschlossen, aber sie hörte auf zu schnarchen.
Die Stimme seiner Mutter zerriß die plötzliche Stille. »Du wirst ihm keinen gewöhnlichen Namen geben! Er ist ein Prinz aus dem Geschlecht des Schwarzen Königs. Und so soll er auch benannt werden!«
Jetzt ging der Atem der Kinderfrau wieder gleichmäßig. Sie zuckte nicht mehr. Alles war wie immer, wäre nicht der Schatten auf ihrem Gesicht gewesen.
»Ich dachte, die Fey taufen ihre Kinder nach dem Brauch des Landes, das sie besetzt haben.« Die Stimme seines Vaters.
»Namen müssen etwas bedeuten, Nicholas. Sie sind der Schlüssel zur Macht.«
»Ich habe noch nicht festgestellt, daß dein Name dir besondere Macht verleiht, Jewel.«
Wieder strich die Brise über seine Haut. Er blinzelte über den Rand der Decke zum Fenster hinüber. Die Lichter tanzten nicht mehr. Ein Strahl fiel vom Fenster direkt auf die Vorhänge seiner Wiege. Die Lichtpünktchen waren winzig, aber schön, höchstens so groß wie seine Fingerspitzen. Plötzlich wurde ihm warm. Die Luft roch nach Sonne.
»Ich werde dem Namen erst zustimmen, wenn du mir erklärst, was er bedeutet.« Die Stimmen schwollen auf und ab, kamen näher und entfernten sich wieder, als umkreisten seine Eltern einander im angrenzenden Zimmer.
»Ich weiß nicht, was er bedeutet, Jewel. Aber er ist schon seit Generationen in meiner Familie.«
»Darauf könnte ich wetten.« Seine Mutter klang wütend. »Es war leichter, das Kind zu machen, als ihm einen Namen zu geben.«
»Jedenfalls hat es mehr Spaß gemacht.«
Er wandte den Kopf dem Vorhang der Wiege zu. Er wünschte, sein Blick könnte den Stoff durchdringen, wünschte, seine Eltern würden zu ihm kommen. Über ihm schwebten die Lichter. Sie waren so schön. Blau und rot und gelb. Er zog den Finger aus dem Mund und hob ihn empor.
Als es ihm tatsächlich gelang, ein blaues Licht zu berühren, zog er mit einem
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