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Filzengraben

Filzengraben

Titel: Filzengraben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Reategui
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hinterher, der schon ein Stück weit den holprigen, von Steinen übersäten Weg hinunter ins Tal gegangen ist. Giovanna begleitet sie mit ihrem verheulten Gesicht. Unten in Druogno streicht ihr der Vater übers Haar und schickt sie zurück zur Mutter hoch auf die Alm, nach Piodabella. Giovanna gehorcht. Sie umarmt Giacomo, der mit seinen acht Jahren schon fast so groß ist wie sie. »Komm zurück, wenn du ein Mann geworden bist. Bitte!«, flüstert die große Schwester ihm ins Ohr.
    Er war kein Mann geworden, er war ein Bettler! Einer, der sich seine Suppe von der Armenbank holte und dafür für das Seelenheil der edlen Almosenstifter beten musste! Immerhin war er satt geworden. Giacomo küsste das Bild der Madonna von Re und schob es wieder zurück unter sein Hemd. Verstohlen stieß er seinen hilfsbereiten Nachbarn an und deutete mit dem Kinn zur Kirchentür.
    Â»Frag nach mir, wenn du was brauchst. Ich bin Tilman«, nuschelte der andere, und wieder verstand Giacomo ihn nur mit Mühe. Dann rückte Tilman noch ein wenig näher an ihn heran und drückte ihm seine Suppenschüssel und den Löffel in die Hand. »Ich hab noch eine«, behauptete er und zog eine Grimasse. Oben in seinem Mund fehlten zwei Zähne.
    Vor der Kirche wandte sich Giacomo nach rechts. Schon nach wenigen Schritten sah er wieder das dreigeschossige Haus mit dem von zwei Pfeilern getragenen Überhang, unter dem er noch eine Stunde zuvor Schutz vor dem Regen gesucht hatte. An der Ecke Filzengraben blieb er stehen. Die Sonne hatte sich durch die dunklen Wolken gekämpft, die scheuen Strahlen lockten ihn hinunter zum Rhein. Aber dann bog er doch in die entgegengesetzte Richtung und passierte das »Rote Schiff«. Das Eingangsportal war weit geöffnet. Giacomo ging langsam daran vorbei. Vor dem Nachbarhaus spielten Kinder Murmeln, zwei Frauen kamen ihm mit Wäschekörben entgegen.
    Â» Dich han ich doch ald e paar Mol he gesinn .«
    Argwöhnisch setzte die Rundlichere der beiden ihre Last ab und pflanzte sich drohend vor ihm auf.
    Â»Suchst du jemanden, oder warum lungerst du hier ständig rum?«
    Â»Ich arbeite für Signor Dalmonte.«
    Es klang nicht überzeugend. Er machte kehrt und hoffte, dass die Frauen ihm nicht folgten. Auf den Eingangsstufen zur Spedition blickte er sich nach ihnen um. Sie standen noch immer an derselben Stelle und beobachteten ihn. Da schlüpfte er leise durch die Tür.
    Das fast quadratische Vorhaus war nicht hochherrschaftlich eingerichtet, aber das Mobiliar zeugte doch von Wohlstand. In der Mitte befand sich ein großer Tisch aus dunklem Holz, auf dem Geschäftsbücher und Dokumente lagen. Davor die eisenbeschlagene Truhe mit den drei Vorhängeschlössern. Ein einziger langer Bücherschrank verdeckte die ganze rechte Wand. Hinten links führte ein Gang in den rückwärtigen Teil des Hauses und, wie Giacomo vermutete, in den Hof. Rechterhand konnte man über eine Wendeltreppe auf die Galerie im Zwischengeschoss gelangen. Am Fuß der Treppe wachte eine Heilige aus hellem Holz. Eine Madonna von Re.
    Von irgendwoher wehten Stimmen an sein Ohr, aber er konnte nicht verstehen, was geredet wurde. Auf einem kleinen runden Tisch am Fenster lagen Schlüssel in einer Schale. Die Schlüssel zu der Truhe? Da hörte er Schritte, die näher kamen. Schneller als erwartet stand die junge Frau vor ihm.
    Sie war groß, das glatte blonde Haar trug sie hochgesteckt, ein zierliches Häubchen bedeckte den Knoten. Seine Anwesenheit hatte sie erschreckt, aber sie schien sich schnell zu fangen. Ohne ihn aus den Augen zu lassen, ging sie langsam zu dem Tisch in der Mitte des Raums und legte die Papiere ab, die sie in der Hand gehalten hatte. Am rechten Arm trug sie einen dünnen Silberreif. Ein ungewöhnliches Schmuckstück. Frauen trugen Bänder ums Handgelenk, mit Silberschnallen oder ohne, mit kleinen Gemmen, gar mit Perlen, aber keine Armreifen. Er hatte bisher nur eine einzige Frau gesehen, die auch einen Reif getragen hatte, einen goldenen. Aber das war vor langer Zeit.
    Noch etwas war merkwürdig an der jungen Frau, er wusste nicht sofort, was es war. Dann fiel es ihm auf. Sie hatte blaue Augen, aber im linken leuchtete ein rotbrauner Fleck. Er konnte den Blick nicht davon lassen. Auch sie musterte ihn, ihre Augen tasteten sein Gesicht ab, seine Kleidung, bis hinunter zu den ausgetretenen Schuhen. Abschätzend kam

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